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Europäische Union:Wer nach der Europawahl Kommissionspräsident werden könnte

Wer sind die Spitzenkandidaten bei der Wahl? Wie stehen die Parteien in den Umfragen da und was bedeutet der Brexit für die Sitzverteilung im Europaparlament? Eine Übersicht mit Grafiken.

Von Christian Endt, Philipp Saul und Benedict Witzenberger

Vom 23. bis 26. Mai wählen Menschen in der Europäischen Union ein neues Parlament. Hier erfahren Sie, wer die Parteiengruppen und ihre Spitzenkandidaten sind, wer am Ende mit wie vielen Abgeordneten ins Parlament einziehen könnte und wer Chancen auf das Amt des EU-Kommissionspräsidenten hat.

Aktuell kann die Europäische Volkspartei, also der Zusammenschluss der Christdemokraten, damit rechnen wieder stärkste Kraft zu werden, gefolgt von den Sozialdemokraten. Anders als bisher werden die beiden Fraktionen aber voraussichtlich alleine keine Mehrheit im Parlament bekommen. Weil noch nicht endgültig klar ist, welche Parteien nach der Wahl gemeinsame Fraktionen bilden, kann sich deren Größe noch deutlich verändern.

In den vergangenen Monaten gab es in den Umfragen insgesamt wenig Bewegung. Stimmungsschwankungen in den Mitgliedstaaten gleichen sich auf europäischer Ebene häufig aus (hier steht der aktuelle Stand in den einzelnen Ländern). Nun geht der Europawahlkampf in die heiße Phase. Die Spitzenkandidaten der großen Fraktionen stehen schon seit Monaten fest:

Die anderen Parteiengruppen haben voraussichtlich keine großen Chancen, den Kommissionspräsidenten zu stellen. Politischen Einfluss haben sie aber sehr wohl. Die Grünen etwa könnten eine wichtige Rolle dabei spielen, eine tragfähige Mehrheit für einen der Spitzenkandidaten zu organisieren. Sie treten mit den Spitzenkandidaten Bas Eickhout und Ska Keller an. Der niederländische Chemiker und Umweltwissenschaftler Eickhout setzt sich für Naturschutz und eine grüne, nachhaltige Wirtschaft ein. Die Brandenburgerin Keller, wie Eickhout seit 2009 im EU-Parlament, engagiert sich vor allem in der Migrationspolitik.

Die Europäische Linke wird 2019 nicht von einem prominenten Spitzenkandidaten vertreten wie 2014, als der spätere griechische Premierminister Alexis Tsipras antrat. Stattdessen setzen die Linken nach einem langen Auswahlverfahren auf den gebürtigen Spanier Nico Cué und die Slowenin Violeta Tomič. Cué machte sich in der internationalen und der belgischen Gewerkschaftsbewegung einen Namen. Er will in der Wirtschaftspolitik einem neoliberalen Europa entgegenwirken. Tomič wurde als Moderatorin und Schauspielerin bekannt. Sie ist seit 2014 Abgeordnete des slowenischen Parlaments und engagiert sich unter anderem für LGBTQ-Rechte in Europa.

Dass die großen Parteien auf andere Koalitionspartner angewiesen sind, liegt auch an den rechten Kräften in Europa. Diese rechnen mit satten Gewinnen und wollen sich nach der Wahl zu einer großen Fraktion zusammenschließen. Der Initiative des italienischen Lega-Chefs Matteo Salvini für eine "Europäische Allianz der Menschen und Nationen" haben sich der französische Rassemblement National von Marine Le Pen und die österreichische FPÖ angeschlossen, die beide wie die Lega bislang in der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) vertreten sind. Dazu kommen noch die AfD und Parteien aus Dänemark, Finnland und Estland sowie möglicherweise noch weitere Partner.

Ob die Rechtspopulisten einen gemeinsamen Spitzenkandidaten aufstellen, ist noch nicht entschieden. Ein gemeinsames Programm haben sie nicht. Die inhaltlichen Unterschiede sind groß. Zwar sind in der Migrationsfrage alle sehr strikt, in wirtschaftlichen und finanzpolitischen Fragen gibt es aber große Differenzen, etwa beim Umgang mit den Staatsfinanzen.

Eine andere euroskeptische Partei im Parlament ist die Gruppe der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR). In der Fraktion sind die britischen Tories und die polnische Regierungspartei PiS am stärksten vertreten. Spitzenkandidat Jan Zahradil aus Tschechien ist der erste Osteuropäer, der je an vorderster Stelle für eine europäische Partei bei den Europawahlen angetreten ist. Wie stark die EKR nach der Wahl sein wird, ist fraglich. Die Tories müssen mit einem schwachen Ergebnis rechnen, noch dazu könnte die EKR einige Parlamentarier an die neue rechte Fraktion verlieren.

Der Brexit verändert auch das Parlament

Gleiches gilt für die Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD), wo derzeit etwa AfD-Chef Jörg Meuthen beheimatet ist. Die meisten Abgeordneten in der EFDD stellen die italienischen Populisten von der Fünf-Sterne-Bewegung und die radikalen EU-Gegner von der britischen Brexit-Partei um die schillernde Führungsfigur Nigel Farage. Wegen der Querelen um den erneut verschobenen britischen EU-Austritt rechnet die Brexit-Partei mit einem starken Ergebnis. Den Fünf Sternen sind die britischen Fraktionskollegen allerdings schon in der laufenden Legislaturperiode zu rechts geworden. Sie wollten deshalb aus der Fraktion austreten und sich der Alde anschließen. Die dezidiert proeuropäische Alde lehnte ab. Nach der Wahl könnten sich die Fünf Sterne umorientieren. Schon jetzt sehen sie sich nach anderen Partnern um. Die EFDD-Fraktion wird also möglicherweise selbst dann nicht fortbestehen, wenn sich der Brexit noch lange verzögert.

Eigentlich wären die Briten ja schon acht Wochen vor der Europawahl aus der EU ausgetreten. Eigentlich. Und so gibt es schon seit Sommer vergangenen Jahres einen ausgereiften Plan der EU, was mit den britischen Sitzen im Europaparlament passiert wäre. Von den 73 Sitzen Großbritanniens wären 27 an die EU-Staaten verteilt worden, die seit der vergangenen Wahl gewachsen sind. Zum Beispiel gingen fünf zusätzliche Sitze an Spanien und Frankreich und jeweils drei an Italien und die Niederlande. Die übrigen 46 Sitze wären für neu beitretende Staaten reserviert gewesen.

Mit dieser Rechnung hätten vor allem die Fraktionen der Sozialdemokraten, der konservativen EKR und der populistischen EFDD im Vergleich zur vergangenen Wahl deutliche Sitzverluste hinnehmen müssen. Die christdemokratische EVP hat bereits einige Jahre keine Partner mehr in Großbritannien, seit die Tories zur EKR gewechselt sind.

Da die Briten jetzt aber bis zum 31. Oktober Zeit haben, den Austrittsvertrag zu ratifizieren, können nun doch 73 EU-Abgeordnete in Großbritannien gewählt werden. Auch Brexit-Befürworter stimmen sich auf die Wahl ein. Von den radikalen Brexiteers bei den Tories kommen Ankündigungen, dass die EU wie ein Trojanisches Pferd unterwandert und die Idee einer europäischen Föderation zerstört werden solle. Und in den Umfragen liegt die Brexit-Partei von Nigel Farage ganz vorne.

Wie lange die britischen Vertreter in Brüssel und Straßburg arbeiten werden, hängt an der britischen Regierung und dem Parlament in Westminster. Es kann sein, dass die EU-Abgeordneten aus Großbritannien nicht einmal die konstituierende Sitzung am 1. Juli mitmachen werden. Vorsichtshalber hat die EU in ihrem Beschluss über die Zusammensetzung des Parlaments schon vorgesorgt. Sollte das Vereinigte Königreich zu Beginn der Wahlperiode 2019-2024 noch zu den Mitgliedstaaten der Union zählen, gilt erst einmal die alte Sitzverteilung weiter. Und erst nach dem Brexit werden die Plätze neu verteilt.

Zur Methodik der Umfragedaten: Die oben gezeigten Umfragewerte basieren auf Befragungen in den einzelnen Mitgliedstaaten. Meist finden keine Umfragen speziell für die Europawahl statt; stattdessen werden jene für die nationalen Parlamentswahlen herangezogen. Das Portal PollOfPolls sammelt die Umfragen und stellt sie zur Verfügung. Die SZ errechnet aus den jeweils neuesten Umfragen der verschiedenen Institute Werte für die einzelnen Parteien auf Landesebene. Entsprechend der Anzahl Sitze je Land und der Zuordnung der nationalen Parteien zu den europäischen Gruppierungen ergibt sich daraus die voraussichtliche Sitzverteilung für das Europäische Parlament. Umfragen sind jedoch generell keine Prognosen für in der Zukunft liegende Wahlen, sondern geben nur die aktuelle Stimmung wieder - und auch dies nur ungefähr im Rahmen einer gewissen Fehlertoleranz.

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