Europa:Die EU braucht ein stärkeres Parlament

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Ursula von der Leyen spricht bei ihrer Bewerbungsrede vor den Abgeordneten des Europaparlaments. (Foto: dpa)

Nur so lassen sich die nationalen Egoismen im Europäischen Rat überwinden. Den Europäern ist zu wünschen, dass der neuen Kommissionspräsidentin von der Leyen ein Schritt in diese Richtung gelingt.

Kommentar von Stefan Ulrich

Sie hat es geschafft. Das hat sie strategischen Fehlern des EU-Parlaments, insbesondere der sozialdemokratischen Parteienfamilie, der Sturköpfigkeit einiger Staats- und Regierungschefs, aber auch ihrer schmissigen, polyglotten Rede am Dienstagmorgen vor den EU-Abgeordneten zu verdanken. All das verhalf Ursula von der Leyen (CDU) am Abend zu einer Mehrheit im Parlament, die in den Wochen zuvor unsicher war. Denn die erfolgsarme deutsche Verteidigungsministerin der vergangenen fünfeinhalb Jahre war alles andere als eine naheliegende Kandidatin. Sie wurde von den Staats- und Regierungschefs überfallartig hervorgezaubert und dem Parlament als alternativlos vorgesetzt. Dieses hat klein beigegeben. Noch vor fünf Jahren, als Martin Schulz (SPD) EU-Parlamentspräsident war, wäre dies unmöglich gewesen.

Die Fairness aber gebietet es zuzugeben: Ursula von der Leyen hat bravourös gekämpft, um schwankende Abgeordnete zu überzeugen. Ein Füllhorn von Versprechungen schüttete sie über diese aus. Grüner Deal. Geschlechtergerechtigkeit. Besteuerung von Digitalunternehmen. Stärkung der Arbeitnehmerrechte. Flüchtlingsrettung. Asylsystem. Harte Kante gegen rechte Europaverächter. Setzt sie künftig all dies durch, wird die EU zu einem (noch) besseren Ort werden.

Europas Einheit liegt im Argen

Doch kann sie das? Ein Satz in ihrer eigenen Bewerbungsrede nährt Zweifel. "Wir müssen unsere Einheit wiederentdecken." Das heißt: Europas Einheit liegt im Argen. Bei all den Vorhaben, die von der Leyen nannte, sind die 28 Mitgliedstaaten zerstritten bis konsensunfähig. Etwa bei der Flüchtlingsrettung im Mittelmeer und der Reform des Asylsystems.

Auch die Art, wie von der Leyen vom Rat der Staats- und Regierungschefs für das wichtigste Amt der EU nominiert wurde, offenbart den Geist der Zwietracht, von dem Europa zurzeit besessen ist. So konnte sich das Parlament auf keinen der Spitzenkandidaten der Europawahl als neuen Kommissionspräsidenten einigen. Das ermöglichte es einer unheiligen Allianz im Rat, den seriösen, aufrechten, moderat-konservativen, in der EU-Politik erfahrenen Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber (CSU), zu demontieren; und danach den ebenfalls sehr geeigneten Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten, Frans Timmermans. Der Wählerwille? Unerheblich.

Die Mitglieder der Gruppe der Destruktiven: der so europafreundlich auftretende französische Präsident Emmanuel Macron sowie die in Teilen autoritären, nationalistischen Regierungen Italiens und der Visegrád-Staaten. Ursula von der Leyen, obwohl selbst engagierte Europäerin, verdankt ihre Nominierung daher maßgeblich europaskeptischen bis europafeindlichen Kräften. Kein Wunder, dass die SPD-Abgeordneten im EU-Parlament - trotz dreisten Drucks aus ihrer eigenen Partei - sie ablehnten. Sie ließen sich auch nicht von peinlich-nationalistischen Appellen beeinflussen, deutsche Abgeordnete hätten gefälligst die deutsche Kandidatin zu wählen. Doch Sozialdemokraten aus anderen Staaten, allen voran die spanischen, die dafür den hübschen Posten des EU-Außenministers einstreichen konnten, unterwarfen sich opportunistisch der Vorgabe der Rats- und Regierungschefs und schwächten so das Parlament.

Das Europaparlament muss zum vollwertigen Parlament werden

Für all das kann Ursula von der Leyen nichts. Und das Gezerre um ihre Wahl hat auch ihr Gutes: Das öffentliche Interesse an der gern als langweilig-bürgerfern abqualifizierten EU ist derzeit groß. Die europäische Öffentlichkeit diskutiert über die Brüsseler Spitzen, die Machtverteilung zwischen ihnen und die Herausforderungen, vor denen die nächste Kommission und ganz Europa stehen. Und klarer denn je ist geworden: Die EU kommt in dieser Verfassung kaum mehr richtig voran. Im Machtzentrum, dem Rat der Staats- und Regierungschefs, zählen vor allem nationale Interessen. Die Regierenden wollen keine Schelte aus Brüssel, wenn sie den Rechtsstaat zertrümmern (Polen), ein illiberales System errichten (Ungarn), hemmungslos Schulden machen (Italien) oder zu wenig Solidarität mit ärmeren EU-Staaten zeigen (Deutschland). Daher einigen sie sich oft nicht auf die beste Lösung für Europa, sondern auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Der liegt bei 28 Staaten, siehe Asylpolitik, auch mal bei null.

Wer eine EU will, die ihre Bürger in einer turbulenten Welt schützt, sollte daher Macht vom Rat auf das Parlament übertragen. Dieses ist mit seinen multinationalen Parteienfamilien viel besser in der Lage, das Gemeinwohl Europas zu fördern. Deshalb muss das Europaparlament zum vollwertigen Parlament werden. Es muss Gesetzesinitiativen ergreifen dürfen. Es muss das Recht zur Nominierung des Kommissionspräsidenten erhalten. Es muss künftig so gewählt werden, dass die Stimmen der Bürger aus den verschiedenen EU-Staaten gleich zählen.

Ursula von der Leyen hat angekündigt, als Kommissionspräsidentin das EU-Parlament zu stärken. Den Europäern ist zu wünschen, dass ihr das gelingt.

© SZ vom 17.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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