EU:Verschieben statt verteilen

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Die europäischen Länder ringen um eine gerechte Flüchtlingsaufnahme. Brüssel verklagt nun Polen, Tschechien und Ungarn, weil sie sich der Aufnahme von Flüchtlingen verweigert haben.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Ein Mitglied der libyschen Küstenwache mit geretteten Flüchtlingen. Vielen Migranten drohen in dem Land katastrophale Zustände. (Foto: Taha Jawashi/AFP)

Die EU-Kommission bleibt konsequent gegenüber jenen Mitgliedstaaten, die sich der Aufnahme von Flüchtlingen verweigert haben. Sie werde das im Juni eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn, Polen und Tschechien nun vor den Europäischen Gerichtshof ziehen, teilte die Behörde am Donnerstag mit. Die drei Länder haben einen EU-Beschluss zur Umverteilung von Flüchtlingen ignoriert. In letzter Konsequenz droht ihnen Zwangsgeld.

In Brüssel wird bezweifelt, dass sich der Grundsatz-Streit, der die europäische Flüchtlingspolitik lähmt, auf diese Weise lösen lässt. Genauso wenig geht aber politisch voran. Als sich die europäischen Innenminister, ebenfalls am Donnerstag, in Brüssel trafen, stand zwar die umstrittene Dublin-Reform auf der Tagesordnung. Über einen Vorschlag der estnischen Ratspräsidentschaft, wie sich hier vielleicht noch ein Kompromiss erzielen lassen könnte, wurde aber gar nicht erst ernsthaft diskutiert. Die Esten hatten ihn vergangene Woche eher verschämt am Rande eines Botschafterfrühstücks in die Runde geworfen. Jeder in Brüssel weiß: Das hätten sie sich sparen können, ihr Plan hat keine Chance.

Dublin bildet das Herzstück der europäischen Reaktion auf die Krise, die seit Jahren absehbar war und mit dem Chaos und den Tausenden Ertrunkenen des Jahres 2015 ihren Höhepunkt fand. Die Idee, Schutzsuchende dort ihre Asylanträge stellen zu lassen, wo sie zuerst europäischen Boden betreten (weil die Migranten nicht nach Europa fliegen dürfen, sind das vor allem Italien und Griechenland), war zunächst bequem für die Staaten im Norden. Spätestens als die Flüchtlingszahlen enorm stiegen, wurde sie untragbar. Der naheliegende Gedanke ist, die Ankommenden zu verteilen, um den Staaten an der Außengrenze zu helfen. Das hat die EU 2015 spontan versucht, in Abweichung von Dublin - mit dem Ergebnis, dass sich einige Länder in Mittel- und Osteuropa der Aufnahme komplett verweigerten. Sie müssten sich Migranten nicht aufzwingen lassen, argumentieren sie und pochen auf ihre nationale Souveränität.

Seit eineinhalb Jahren arbeiten Europas Politiker nun daran, die aus der Not geborene Dublin-Ausnahme zur europäischen Regel zu machen. Die Idee: Flüchtlinge werden fair verteilt, je nach Größe und Stärke der Staaten. Das Europäische Parlament kommt mit seinem jüngst verabschiedeten Vorschlag der praktischen Vernunft am nächsten. Es möchte die Asylbewerber, unabhängig von ihrer Zahl, von vornherein verteilen, unter Aufsicht einer europäischen Instanz. Der Vorschlag der Kommission ist weniger ehrgeizig, er will von Dublin nur bei größerem Andrang abweichen und Verweigerer mit horrenden Geldstrafen zur Einsicht bewegen.

Doch Staaten wie Ungarn und Polen halten an ihrem Widerstand gegen jegliche Zwangsverteilung eisern fest. Eine Ratspräsidentschaft nach der nächsten hat versucht, das Unvereinbare miteinander zu vereinbaren und Formeln zu finden, wie sich "Solidarität" zeigen ließe, ohne solidarisch zu sein. Praktisch lief das auf Wege hinaus, sich letztlich von der Aufnahme von Flüchtlingen freikaufen zu können - und stattdessen Geld, Grenzschützer oder Nachtsichtgeräte zu liefern. Das wiederum ist für Aufnahmestaaten wie Deutschland politisch inakzeptabel.

Es ist fast schade, dass auch das "Non-paper" der Esten wenig berücksichtigt werden wird. Die Autoren greifen geschickt maltesisch-slowakische Vorarbeit auf: In "normalen" Zeiten bliebe es bei Dublin, unter "herausfordernden" Umständen und noch mehr im Falle einer "schweren Krise" seien aber "Solidaritätsmaßnahmen" nötig, sprich: die Umverteilung von Flüchtlingen. Den Mittel- und Osteuropäern kommt das Papier mit der wiederholten Zusicherung entgegen, alle müssten auch einverstanden sein mit diesen Maßnahmen. Gleichzeitig baut es einen Quasi-Automatismus ein: Danach gälte die Umverteilung als beschlossen, außer sie würde von einer qualifizierten Mehrheit der Staaten gestoppt (die es absehbar nicht gäbe).

Dass sich Polen oder Ungarn darauf einlassen, steht nicht zu erwarten. Die Innenminister werden keinen Fortschritt mehr machen, es läuft auf einen Showdown auf höchster Ebene hinaus. Beim letzten Gipfel im Oktober verabredeten die Staats- und Regierungschefs, sie würden "im Dezember auf dieses Thema zurückkommen und einen Konsens in der ersten Jahreshälfte 2018 anstreben". Laut EU-Diplomaten wurde das relativierende Wort "einen" in letzter Minute vor den "Konsens" gesetzt. Mit einer alle zufriedenstellenden Lösung ist demnach keinesfalls zu rechnen, wenn bei einem Gipfeltreffen im Juni das letzte Wort gesprochen wird.

Die EU-Kommission baute den Verweigerern am Donnerstag derweil ostentativ eine Brücke. Man könne die verpflichtende Aufnahme von Flüchtlingen ja auf "ernsthafte Krisen" beschränken, schlug Vizepräsident Frans Timmermans vor, während für "weniger herausfordernde" Situationen "freiwillige" Solidarbeiträge ausreichten. Über die Definitionsfrage, wann welcher Zustand herrsche, müsse eben politisch verhandelt werden.

© SZ vom 08.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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