EU-Verfahren gegen Ungarn:Was Europa gegen Orbáns Bonaparte-Virus tun muss

Unter Viktor Orbán wächst mitten in Europa eine gelenkte Demokratie heran, die autoritäre Züge trägt. Ungarn käme heute nicht einmal mehr in die Nähe einer EU-Aufnahme. Merkel, Sarkozy und Cameron müssen sich ihren Freund jetzt zur Brust nehmen. Die schwerste aller Strafen darf zwar nur das letzte Mittel sein. Doch es ist an der Zeit, mit ihr zu drohen.

Martin Winter

Ungarn, einst Musterknabe unter den Neuen in der Europäischen Union, ist zu ihrem wohl schwersten Problemfall geworden. Denn das Land steht nicht nur am Rande des finanziellen Ruins, sondern, schlimmer noch, am Rande des rechtsstaatlichen Bankrotts. Nur wenn die EU diese Entwicklung stoppt, kann sie Schaden von den Menschen in Ungarn, aber auch Schaden von sich selbst abwenden. Lässt man die Regierung in Budapest dagegen einfach davonkommen, dann ist der europäische Wertekanon das Papier nicht mehr wert, auf dem er steht. Europa als ein Hort von Demokratie, Menschenrechten und Freiheit verlöre weltweit an Glaubwürdigkeit.

Viktor Orban

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, unverkennbar von einem Bonaparte-Virus befallen, missbraucht seine Zweidrittelmehrheit im Parlament.

(Foto: AP)

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist vor allem die Schuld des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Der unverkennbar von einem Bonaparte-Virus befallene Regierungschef missbraucht seine Zweidrittelmehrheit im Parlament, um den Staat sich und seiner Partei untertan zu machen. Mitten in Europa wächst eine gelenkte Demokratie heran, die autoritäre Züge trägt.

Schuldig gemacht hat sich freilich auch Brüssel. Zu lange wurde weggeschaut und zu zögerlich wurde auf die ersten Anzeichen einer undemokratischen Entwicklung reagiert. Als das ungarische Mediengesetz im vergangenen Jahr die Pressefreiheit einschränkte, begnügte sich die EU-Kommission damit, nur marginale Korrekturen zu verlangen. Die aber waren ungeeignet, die Pressefreiheit zu garantieren. Nach diesem samtpfötigen Umgang mit ihm musste Orbán davon ausgehen, dass Brüssel ihm nicht ernsthaft in die Quere kommen würde.

Beispiellos in der EU-Geschichte

Die Kommission hätte sich das große Geschütz sparen können, das sie jetzt auffährt, wäre sie beim Mediengesetz unnachgiebiger gewesen. Aber besser spät als nie. Die Verfahren wegen Verletzung der europäischen Verträge, die die Kommission nun gegen die ungarische Regierung eröffnet hat, sind ohne Beispiel in der Geschichte der EU. Denn auch wenn damit formal nur bestimmte Teile der ungarischen Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit dem europäischen Recht überprüft werden, so ist das Vorgehen doch von einer grundsätzlichen, politischen Besorgnis getrieben.

Im vergangenen Jahr haben sich noch viele vor Orbán gestellt und um Verständnis für seine Politik geworben. Und Orbán hatte mächtige Unterstützer. Seine Partei gehört nun einmal zum großen Block der christlich-konservativen Parteien in Europa, zur Europäischen Volkspartei. Die wiederum stellt die Mehrheit der europäischen Regierungen, hält die Mehrheit im Europäischen Parlament, und aus ihren Reihen kommt der Präsident der EU-Kommission.

Dass nun auch Orbáns politische Freunde vorsichtig auf Distanz zu ihm gehen, zeigt wie kaum etwas anderes, wie dramatisch, über Parteigrenzen hinweg, die Lage in Ungarn inzwischen gesehen wird. Das wäre eine gute Basis für eine europaweite, politische Auseinandersetzung über die Werte der Demokratie, die Grenzen der Macht und die Substanz der Freiheit.

Zerstörung der EU von innen heraus

Diese Auseinandersetzung muss man aber auch wollen. Es reicht nicht, sich hinter der Arbeit der EU-Kommission zu verstecken. So wichtig die legale Überprüfung von Gesetzen ist, so wenig genügt sie hier. Es ist Zeit, sich mit der politischen Dimension des Falles Ungarn auseinanderzusetzen - und das heißt: mit einem System, in dem eine aus freien Wahlen hervorgegangene Partei und ihr Führer versuchen, die ihnen demokratisch verliehene Macht dazu zu nutzen, ihre Herrschaft auf Dauer zu zementieren. Im Justizapparat, in den Medien oder bei der Zentralbank.

Viktor Orban

Orbán beugt sich der Macht der EU und gibt sich bedingt kompromissbereit.

(Foto: AP)

Mit seinen jetzigen Gesetzen und mit der Machtpolitik à la Orbán käme Ungarn heute nicht einmal in die Nähe einer Aufnahme in die EU. Dass das Land nun aber schon seit acht Jahren Mitglied der Union ist, kann kein Grund sein, es nicht an den strengen Kriterien zu messen, die für einen Beitritt gelten. Das ist keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ungarns. Es ergibt sich vielmehr allein aus der Pflicht aller EU-Länder, den umfangreichen Wertekatalog der Gemeinschaft zu respektieren und darauf zu achten, dass er überall in der Union gilt. Dafür gibt es im Lissabon-Vertrag den Artikel 7, der es der EU nicht nur erlaubt, sondern geradezu auferlegt, die Rechte eines Mitglieds auf Eis zu legen, wenn es hartnäckig gegen grundlegende Werte der Union verstößt.

Diese schwerste aller Strafen wurde mit gutem Grund geschaffen: Die EU muss sich auch gegen eine Zerstörung von innen heraus schützen. Die Verfahren der Kommission sind für Orbán nun die letzte Chance, seinen Kurs zu ändern. Das wird er umso schneller tun, je mehr er spürt, dass ihn auch seine politischen Freunde verlassen.

Alle großen und viele der kleinen europäischen Länder werden von Konservativen oder Christdemokraten regiert. Deren Regierungschefs, ob sie nun Merkel, Sarkozy oder Cameron heißen, haben bei aller Sorge um den Euro auch die Pflicht, die EU politisch nicht in Schieflage geraten zu lassen. Sie sollten sich ihren Freund Orbán zur Brust nehmen und ihm keine Zweifel darüber lassen, dass sie es ernst meinen, sehr ernst. Die Keule des Artikel 7 zu schwingen, darf nur das letzte Mittel sein. Aber es ist an der Zeit, mit ihr zu drohen.

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