Die Lage ist wohl wirklich schlecht, wenn selbst zurückhaltende Diplomaten das Adjektiv „verzweifelt“ benutzen. Vor dem Treffen der Außenminister und -ministerinnen der EU am Montag in Luxemburg hörte man dieses Wort in Gesprächen über die Ukraine beunruhigend oft. Das überfallene Land steht vor dem dritten Kriegswinter, große Teile der Energieinfrastruktur sind zerstört, an der Front rücken die russischen Angreifer vor. Die Situation, mit der die Minister sich befassen mussten, ist mithin düster.
Anlass zur Verzweiflung gibt zum einen der prekäre Ausrüstungsstand der ukrainischen Armee. Während Russland seine Volkswirtschaft auf Krieg umgestellt hat und Rüstungsgüter entweder in Massen selbst produziert oder von Verbündeten bekommt, schafft die EU es weiterhin nicht, Kiew in ausreichendem Ausmaß mit dringend benötigten Waffen zu versorgen, etwa zur Luftverteidigung.
Iran liefert Russland ballistische Raketen, die dann in der Ukraine einschlagen
Diese Kluft hat das Luxemburger Treffen auf drastische Weise bloßgelegt: Wieder und wieder bat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij in den vergangenen Wochen den Westen, seinem Land mehr Flugabwehrsysteme zu geben, damit Wohnhäuser, Hospitäler und Kraftwerke vor dem russischen Beschuss geschützt werden können. Die Armeen der Europäer und der USA hätten genügend davon in ihren Arsenalen, sagte er.
Die EU-Minister beschlossen am Montag jedoch – Sanktionen gegen Iran. Das Regime in Teheran soll damit dafür zur Rechenschaft gezogen werden, dass es ballistische Raketen an die russische Armee liefert, die diese dann wiederum auf die Ukraine abfeuert. Brüssel hat 14 Personen und Firmen in Iran identifiziert, die für diesen völkerrechtswidrigen Handel verantwortlich sein sollen. Diese werden nun mit Strafen belegt.
Zu den sanktionierten Firmen gehört neben zwei anderen auch die staatliche Fluglinie Iran Air, die künftig keine Flüge aus der EU nach Iran mehr anbieten kann. Unter den Personen auf der neuen Sanktionsliste steht der Vizeverteidigungsminister Irans. Teheran werde über diese Strafen bestimmt nicht erfreut sein, sagt ein Regierungsvertreter in Brüssel. Dass all das den Raketenhagel auf ukrainische Städte nennenswert reduzieren wird, behauptet allerdings kein EU-Diplomat ernsthaft.
Vor Sanktionen gegen China schreckt die EU zurück
Ohnehin ist Iran nur ein Verbündeter Russlands, und vermutlich nicht einmal der wichtigste. Es hat einige Zeit gedauert, bis die EU sich eingestanden hat, dass China das befreundete russische Regime massiv unterstützt, indem es Rohstoffe kauft, militärisch nutzbare Güter liefert und sich als Transitland für die Umgehung der westlichen Sanktionen anbietet. Inzwischen jedoch sei Pekings Hilfe für Moskau „offensichtlich“, sagt ein EU-Diplomat. Das Verhalten Chinas sei „eine direkte Bedrohung der europäischen Sicherheit“. Doch vor Sanktionen gegen die Wirtschaftsmacht China schreckt die EU bisher zurück.
Zum Verzweifeln bringt die EU zudem ein Problemstaat aus den eigenen Reihen: Ungarn. Die Regierung in Budapest torpediert und verzögert die europäische Hilfe für die Ukraine seit Langem. Beim EU-Gipfeltreffen an diesem Donnerstag in Brüssel werden die Staats- und Regierungschefs ihren ungarischen Kollegen Viktor Orbán wieder einmal ins Gebet nehmen, damit er einlenkt und ein Veto aufgibt, durch das die Beteiligung der USA an einem Kredit für Kiew in Höhe von 50 Milliarden Dollar blockiert wird.
Ob das gelingt, ist offen. Orbán hat in Brüssel unverblümt mitteilen lassen, dass er vor einer Entscheidung zunächst die Präsidentenwahl in den USA abwarten wolle. Das heißt: Er möchte Donald Trump ermöglichen, der Ukraine den Geldhahn zuzudrehen.
Josep Borrell hat eine Idee. Doch sie birgt ein Risiko
Ähnlich stur blockiert der Ungar seit mehr als einem Jahr alle Auszahlungen aus der European Peace Facility (EPF), einem speziellen EU-Budget, aus dem sich Mitgliedsländer einen Teil der Kosten für Waffen und Munition erstatten lassen können, die sie in die Ukraine schicken. Insgesamt beläuft sich die Summe, die EU-Staaten für ihre Waffenlieferungen zurückbekommen sollten, wegen des ungarischen Vetos aber nicht erhalten, auf 6,6 Milliarden Euro. Das trifft vor allem Länder wie Polen und die Balten hart, die der Ukraine viel Militärmaterial gegeben haben und die Erstattung aus Brüssel dringen brauchen.
Um die ungarische Blockade aufzulösen, hat der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell den Ministerinnen und Ministern in Luxemburg am Montag vorgeschlagen, dass die Beiträge zur EPF künftig freiwillig sein sollen. Derzeit muss jedes Mitgliedsland nach dem geltenden EU-Verteilerschlüssel einen Pflichtbetrag einzahlen. Ungarn wäre nach der Änderung davon befreit, Waffenlieferungen an die Ukraine indirekt mitzubezahlen, und würde im Gegenzug das bisher gesperrte Geld freigeben, heißt es in Brüssel.
Allerdings gibt es in vielen EU-Hauptstädten – darunter Berlin – Zweifel daran, ob es klug ist, diese Pflicht zur Unterstützung der Ukraine in eine Kür umzuwidmen. In manchen Ländern könnten sich dann Parlamente einmischen, die lieber sparen oder die Ukraine aus politischen Gründen nicht unterstützen wollen, geben Skeptiker zu bedenken. Andererseits: Die Lage ist, wie ein Diplomat betont, „verzweifelt“.