EU-Umsiedlungsprogramm:Warum Seehofer 10 200 Flüchtlinge aufnimmt

EU-Umsiedlungsprogramm: Frauen, Kinder, Menschen, die Folter und Gewalt durchlitten haben: Sie sollen bevorzugt beim EU-Umsiedlungsprogramm berücksichtigt werden - Flüchtlingscamp im Südosten Äthiopiens.

Frauen, Kinder, Menschen, die Folter und Gewalt durchlitten haben: Sie sollen bevorzugt beim EU-Umsiedlungsprogramm berücksichtigt werden - Flüchtlingscamp im Südosten Äthiopiens.

(Foto: Yonas Tadesse/AFP)

Wer wählt die Menschen aus, die nach Deutschland kommen? Und was heißt "besonders schutzbedürftig"? Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Umsiedlungsprogramm der EU.

Von Jan Bielicki und Constanze von Bullion, Berlin

Sie gelten als "vulnerabel", also als besonders verletzlich, haben Misshandlung oder Vergewaltigung überlebt, sind noch Kinder und allein auf der Flucht oder so traumatisiert, dass sie dringend psychologische Hilfe brauchen. 10 000 dieser besonders schutzbedürftigen Flüchtlinge wird die Bundesregierung im Rahmen eines Umsiedlungsprogramms der EU nach Deutschland holen. Angesichts hoher Flüchtlingszahlen im Land hat nicht jeder Verständnis für diese Entscheidung. Helferorganisationen wie Pro Asyl kritisieren die Initiative als unzureichend.

Warum nimmt ausgerechnet Horst Seehofer weitere 10 200 Flüchtlinge auf?

Die Entscheidung hat der neue Bundesinnenminister von seinem Vorgänger geerbt. Ursprünglich stammt die Idee von EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos. Im Oktober 2017 forderte der Grieche die EU-Staaten auf, sich an einem Umsiedlungsprogramm für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika zu beteiligen. Frankreich und die skandinavischen Staaten sagten ihre Unterstützung zu, auch Deutschland schloss sich an. Offenbar war auch die Zahl von 10 200 Flüchtlingen hier längst vereinbart. Erst die neue Bundesregierung konnte sie aber offiziell bestätigen.

Kann Seehofer das Umsiedlungsprogramm nicht verhindern?

Seehofer dürfte nicht begeistert von der Entscheidung sein, weitere 10 200 Personen anzusiedeln. Dass Deutschland hier Verantwortung übernehme, sei aber "angemessen", sagte er am Donnerstag. Seehofer hat zwar immer wieder betont, entschlossener abschieben zu wollen. Dem Umsiedlungsprogramm kann er sich aber nicht verweigern. Zum einen geht es um eine Verabredung mit den EU-Partnern. Zum anderen sind Flüchtlinge, die vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) ausgesucht und gezielt in sichere Länder gebracht werden, keine illegalen, sondern legale Zuwanderer. Sie werden akribisch überprüft, kriminelle Schlepper haben keinen Zugriff mehr auf sie. Das kommt auch Seehofer entgegen.

Wer soll aufgenommen werden und aus welchen Ländern?

Weltweit sieht das UNHCR 1,2 Millionen Flüchtlinge in so großer Not, dass sie aus den Ländern, in die sie sich geflüchtet haben, umgesiedelt werden müssten. Eine halbe Million dieser Menschen sind Syrer, die vornehmlich in den Nachbarstaaten ihres kriegszerrütteten Heimatlandes notdürftig untergekommen sind. Aber auch in Afrika ist das Elend groß. Darum hat die Europäische Union ihre Zusagen an das UNHCR deutlich erhöht: Bis Ende Oktober 2019, so empfahl die EU-Kommission im vergangenen Herbst, sollten die Mitgliedsstaaten 50 000 Schutzbedürftige aufnehmen - besonders aus Flüchtlingslagern in den nordafrikanischen Staaten Libyen, Ägypten, Niger, Sudan, Tschad und Äthiopien, aber auch weiterhin aus Jordanien, Libanon und der Türkei. Das geschieht nicht nur aus humanitären Gründen: Die EU verspricht sich davon, damit den Drang der Flüchtenden, per Boot über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, wenigstens etwas zu dämpfen.

Was bedeutet es, dass die Menschen besonders schutzbedürftig sind?

Nach einem Kriterienkatalog des UNHCR sind das etwa Menschen, die Folter und Gewalt erfahren haben, besondere medizinische Behandlung brauchen, oder aber Kinder, Jugendliche und Frauen, die großen Risiken ausgesetzt sind. Auch wenn sie Verwandtschaft im Aufnahmestaat haben, spielt das eine Rolle bei der Auswahl.

Wie läuft das Programm genau ab - wer wählt aus, wie kommen die Menschen nach Deutschland?

Die Vertreter des UNHCR in den Erstzufluchtsländern im Nahen Osten und Nordafrika treffen eine Vorauswahl der Menschen, die sie für besonders schutzbedürftig halten. Wer wirklich kommen darf, entscheiden jedoch allein die Aufnahmeländer. Eigene Teams des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge führen dafür mit den vom UNHCR vorgeschlagenen Menschen persönliche Gespräche, teilweise auch per Video. Dabei beurteilen sie auch deren Integrationsfähigkeit. Wer dann vom Amt eine Aufnahmezusage bekommt, darf zunächst befristet in Deutschland bleiben, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen.

Welche anderen Staaten siedeln ebenfalls Flüchtlinge an?

Zuletzt haben laut UNHCR drei Länder 85 Prozent der weltweit Umgesiedelten aufgenommen: die USA, Kanada und Australien. In EU-Staaten wurden 2017 fast 24 000 Flüchtlinge umgesiedelt, dreimal so viele wie noch 2015. Davon kamen nach Zahlen des EU-Statistikamtes im vergangenen Jahr etwa 3 000 in die Bundesrepublik. Zudem holte Deutschland seit 2013 über eigene humanitäre Aufnahmeprogramme des Bundes und der Länder fast 47 000 weitere Schutzsuchende, vor allem Syrer, ins Land. Manche osteuropäische Staaten wie Ungarn und Polen, aber auch Griechenland, das sich mit der Ankunft von Bootsflüchtlingen aus der Türkei belastet sieht, wollen dagegen keine Umsiedler aufnehmen - und müssen das auch nicht. Als Anreiz für die Mitgliedsstaaten hat die EU für jeden Flüchtling, den sie ansiedeln, 10 000 Euro ausgelobt.

Welche weiteren Punkte verhandelt EU-Migrationskommissar Avramopoulos mit Seehofer in Berlin?

Avramopoulos und Seehofer haben auch über die Entscheidung der Bundesregierung gesprochen, die Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze aufrechtzuerhalten, mindestens für weitere sechs Monate. Das widerspricht dem Geist des Schengen-Abkommens. Der EU-Kommissar drängte darauf, Kontrollen an Binnengrenzen nicht zum Dauerzustand werden zu lassen. "Schengen muss geschützt werden", sagte er. Ein Expertengremium soll von nächster Woche an in Brüssel darüber beraten, "welche intelligenten alternativen Möglichkeiten" es zu den Kontrollen geben könne, sagte Seehofer. Zu Einbußen bei der Sicherheit dürfe es aber nicht kommen. Auch biometrische Daten in Personalausweisen und das Gemeinsame Europäische Asylsystem kamen zur Sprache.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: