Kriegsfinanzen:EU berät über Stärkung ukrainischer Feuerkraft

Kriegsfinanzen: Ukrainische Einheiten feuern auf russische Stellungen nahe Bachmut

Ukrainische Einheiten feuern auf russische Stellungen nahe Bachmut

(Foto: Libkos/AP)

Nato-Staaten haben der Ukraine Geschütze geliefert, aber nicht genug Munition. Die EU will nun für eine Milliarde Euro Artilleriegeschosse kaufen. Doch der Bedarf ist viel höher.

Von Hubert Wetzel, Brüssel

Die Europäischen Union will kurzfristig eine Milliarde Euro für den Kauf von Artilleriegeschossen ausgeben, um die Versorgung der Ukraine mit der dringend benötigten Munition in den kommenden Monaten sicherzustellen. Über einen entsprechenden Vorschlag des Außenbeauftragten der EU, Josep Borrell, sollen die Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten bei ihrem Treffen in Stockholm an diesem Dienstag und Mittwoch beraten.

Darüber hinaus, so Borrells Plan, sollen die EU-Länder gemeinsam langfristige Lieferverträge mit der Rüstungsindustrie abschließen, damit der Nachschub an Munition auch in den nächsten Jahren gewährleistet ist - sowohl um die Ukraine damit zu beliefern als auch, um die eigenen, weitgehend geleerten Bestände wieder aufzufüllen.

Der Plan ist eine Reaktion auf den gravierenden Mangel an westlicher Munition, unter dem die ukrainische Armee leidet. Die Streitkräfte des Landes wurden von den Nato-Staaten zwar mit unterschiedlichsten Artilleriegeschützen westlicher Bauart ausgestattet. Diese verschießen jedoch in der Regel Granaten mit dem Nato-Standardkaliber 155 Millimeter. Und davon können die Nato-Länder nicht so viel liefern, dass die ukrainische Armee mit der Feuerrate der russischen Truppen mithalten könnte.

Russland kann täglich 20 000 Artilleriegranaten abfeuern. Die Ukraine höchstens 6000

Militärisch bedeutet das: Während die russische Armee in der Ukraine jeden Tag um die 20 000 Artilleriegranaten abfeuern kann - etwa die Zahl an Geschossen, die monatlich in Westeuropa hergestellt werden -, stehen den Ukrainern täglich nur 4000 bis 6000 Schuss zur Verfügung.

Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow, der seine europäischen Kollegen diese Woche in Stockholm treffen wird, hat die EU daher aufgefordert, seinem Land mindestens 250 000 Schuss Artilleriemunition pro Monat zu liefern. In einem Brief an die EU-Regierungen, über den die Financial Times berichtete, rechnete Resnikow vor, dass seine Armee eigentlich sogar mehr als 350 000 Schuss pro Monat benötige, um militärisch effektiv sein zu können.

In diesem Umfang wird die EU der von Russland angegriffenen Ukraine allerdings kaum helfen. Eine einfache 155-Millimeter-Granate, die zum Beispiel nicht über eine Laser- oder GPS-Lenkeinheit verfügt - mithin eine sogenannte "dumme Bombe" - kostet um die 3000 Euro pro Stück. Mit einer Milliarde Euro lassen sich also etwas mehr als 330 000 Geschosse beschaffen - weit weniger, als die Ukraine nach eigenen Angaben benötigt.

Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas hatte unter anderem aus diesem Grund kürzlich vorgeschlagen, dass die EU vier Milliarden Euro für den Kauf von Munition bereitstellt und die Aufträge zudem direkt mit den europäischen Rüstungsfirmen aushandelt - ähnlich wie beim gemeinsamen Ankauf der Covid-Impfstoffe.

In Brüssel wird überlegt, Staaten wie Norwegen oder Kanada ins Boot zu holen

Borrells Plan zufolge soll die EU allerdings in einem ersten Schritt zunächst nur eine Milliarde Euro aus der sogenannten European Peace Facility (EPF) in den Munitionseinkauf investieren. Die EPF ist ein Geldtopf der EU, aus dem die Union ihre Mitgliedsländer für Waffen- und Munitionsspenden an die Ukraine entschädigt. In diesem Jahr sind dafür zwei Milliarden Euro vorgesehen. Borrell hofft, dass die EU-Staaten der Ukraine möglichst schnell mit 155-Millimeter-Munition aushelfen, die noch in den heimischen Depots liegt, wenn ein großer Teil der EPF-Mittel bereits explizit für die Kostenerstattung vorgemerkt ist. Auf diese Weise würden diese Munitionsspenden nicht mit anderen Waffenlieferungen konkurrieren.

Erst in einem zweiten Schritt sollen sich die Europäer laut Borrells Vorschlag darauf einigen, dass die EU als Organisation an Rüstungsunternehmen herantritt und mehrjährige Lieferverträge für die knappe Artilleriemunition abschließt. Diese Aufgabe könnte die EU-Kommission übernehmen, deren Präsidentin Ursula von der Leyen bereits Zustimmung signalisiert hat. Dieses Vorgehen ist auch der Kern von Kallas' Forderung, den gemeinsamen Impfstoffeinkauf bei der Munition als Blaupause zu nutzen.

Das hätte gegenüber der bisherigen Praxis, bei der einzelne Länder separat Bestellungen aufgeben, den Vorteil, dass die Industrie einen massiven Auftrag von einem Auftraggeber bekommen würde. Die Unternehmen hätten dadurch mehr Planungssicherheit und einen garantierten Abnehmer. Die EU könnte im Gegenzug eventuell einen besseren Preis pro Granate aushandeln. Als dritten Schritt sieht Borrells Plan schließlich vor, dass die EU langfristig die Rüstungskapazitäten in Europa stärkt.

Um einen zentralisieren Einkauf von Munition durch die Kommission zu finanzieren, müssten die EU-Länder allerdings entweder die EPF wieder mit frischem Geld auffüllen oder einen weiteren Etat für diesen Zweck schaffen. Dazu gibt es noch keinen Beschluss der europäischen Regierungen. In Brüssel wird zudem überlegt, auch Staaten wie Norwegen oder Kanada, die nicht der EU angehören, an der gemeinsamen Munitionsbeschaffung teilnehmen zu lassen.

Bisher schieben sich Industrie und Regierungen oft gegenseitig die Schuld daran zu, dass die Herstellung von 155-Millimeter-Granaten in Europa so schleppend verläuft. Die Unternehmen argumentieren, sie hätten keine verlässlichen, langfristigen staatlichen Aufträge, um die Produktion dauerhaft zu steigern. Regierungsvertreter wiederum monieren, dass die Industrie längst mehr Granaten herstellen könnte, wenn sie wollte. Wenn es in Europa derzeit einen sicheren Markt für irgendein Produkt gebe, dann wohl für Munition.

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