In der ukrainischen TV-Serie „Diener des Volkes“ gibt es eine Szene, die das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der Ukraine ziemlich gut zusammenfasst: Wolodimir Selenskij, der den Fernsehpräsidenten Holoborodko spielte, bevor er der echte Präsident wurde, marschiert voller Tatendrang durch ein sonniges und parkähnliches Kiew. Sein Handy klingelt. Angela Merkel ruft an, um mitzuteilen, dass sein Land in die EU aufgenommen wird. Holoborodko flippt aus und erklärt, die Ukrainer hätten so lange auf diesen Moment gewartet, sogar der Springbrunnen im Hintergrund versprüht eine spontane Freudenfontäne. „Ukrainer?“, fragt Merkel. Entschuldigung, da muss ein Fehler passiert sein, sie wollte eigentlich Montenegro anrufen.
Der Wunsch der Ukrainer nach Teilhabe an der EU ist fast so alt wie die Unabhängigkeit des Landes. Letztlich hat sich auch der Krieg mit Russland an den Bemühungen um eine EU-Mitgliedschaft entzündet. Als 2013 ein Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine im Raum stand, und sich der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch unter dem Einfluss Moskaus geweigert hatte, das Abkommen zu unterzeichnen, brachen die Maidan-Proteste aus und Russland besetzte die Krim.
Janukowitsch wurde gestürzt, das Abkommen unterzeichnet und die Ukraine hat sich stark in Richtung Westen orientiert. Seit 2022 hat der Krieg die Gespräche über einen EU-Beitritt noch einmal beschleunigt bis zum Beginn der Beitrittsverhandlungen an diesem Dienstag.
Deutschland und Frankreich bremsen
Selenskij hat, inzwischen als echter Präsident, seit Jahren darauf gedrängt. Auch viele osteuropäische Länder unterstützen die Ukraine bei ihrem Streben in die EU; andere, darunter Deutschland und Frankreich, sind jedoch skeptischer und bremsen. Denn Experten warnen: Ein Beitritt, wenn er den Anforderungen der EU genügen soll, wäre vor 2030 kaum machbar. Und selbst dieses Ziel gilt als ambitioniert, schon allein, weil mehr als 100 000 Seiten an EU-Gesetzen in nationales ukrainisches Recht überführt werden müssten. Dieses Verfahren dauert in der Regel Jahre. Dazu kommen die Kriterien, was Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaft angeht, die von der Ukraine nach wie vor nur teilweise erfüllt werden.
Es ist zwar sicherlich Auslegungssache, ob die Demokratie in der Ukraine „stabil“ genug ist und ob Minderheiten ausreichend geschützt werden. Probleme damit haben auch einige EU-Mitglieder. Und was die Digitalisierung sowie den kompetenten Umgang mit russischen Aggressionen aller Art angeht, ist die Ukraine vielen EU-Staaten sogar deutlich voraus.
Für die Ukraine ist das zwar schön, es hilft beim EU-Beitritt aber alles nichts, solange das mit Abstand größte Hindernis nicht behoben ist: die grassierende Korruption. Die Bundeszentrale für politische Bildung nennt sie die größte Herausforderung neben dem Krieg.
Krasse Fälle von Korruption
Von kleinen „Geschenken“ im Umgang mit offiziellen Stellen bis zur Veruntreuung von Staatsgeldern deckte die Korruptionspalette in der Ukraine alles ab. Auch in jüngster Zeit sind immer wieder teils krasse Fälle öffentlich geworden, wie Anfang 2023, als bekannt wurde, dass Lebensmittel für Soldaten zu viel zu hohen Preisen abgerechnet wurden.
Selenskij besetzt als Konsequenz immer wieder Ministerien und andere Posten neu und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lobte im vergangenen Jahr den Kampf gegen die Korruption. Kritiker und ukrainische Medien haben aber nach wie vor starke Zweifel an den behaupteten Fortschritten.
Im tiefroten Bereich
Dass es zur Korruption keine Statistiken gibt, liegt in der Natur der Sache. Ein Indikator ist aber der Korruptions-Wahrnehmungs-Index, der kombiniert, wie verschiedene Organisationen, darunter die Weltbank, ein Land einschätzen. Die Ukraine konnte sich darin seit 2022 immerhin um drei Plätze verbessern. Auf Rang 104 von 180 und mit 36 von 100 erreichbaren Punkten rangiert sie aber noch immer im tiefroten Bereich.
Die Korruption verschärft zusammen mit dem Krieg außerdem ein weiteres großes Problem der Ukraine: die schwache Wirtschaft. 2021 betrug das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine umgerechnet auf die Bevölkerungszahl nur ein gutes Drittel der Leistung des aktuellen EU-Schlusslichts Bulgarien. Das Land wäre bei einem Beitritt also mit Abstand das wirtschaftlich schwächste EU-Mitglied und hätte Anspruch auf die höchsten Unterstützungszahlungen in der Union.
Die Beträge, die manche EU-Staaten bezahlen und andere empfangen, würden sich durch einen Beitritt der Ukraine also deutlich verschieben. Zu stemmen wäre das, ob Länder, die dann mehr zahlen müssten oder weniger bekommen würde, auch mitmachen, ist offen. Derzeit sind das aber alles Überlegungen für eine Zukunft, die noch lange nicht in Sicht ist. Um den Konflikt zwischen Russland und dem Westen nicht weiter zu verschärfen, ist ein Beitritt der Ukraine zur EU kaum vorstellbar, solange die russische Armee weiter im Donbass vorrückt und ukrainische Städte mit Luftangriffen überzieht. Und genau das weiß man natürlich auch in Moskau.