Prozess gegen Oppositionelle in TunisHält die EU Tunesiens Autokraten die Treue?

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EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen traf 2023 Tunesiens Präsidenten, seitdem bremst das Land die Migration von dort nach Europa deutlich.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen traf 2023 Tunesiens Präsidenten, seitdem bremst das Land die Migration von dort nach Europa deutlich. (Foto: AFP)

Tunesiens Präsident Kaïs Saïed lässt in einem Schauprozess Dutzende Oppositionelle aburteilen. Und die EU-Kommission schlägt vor, Tunesien als sicheres Herkunftsland einzustufen. Wie passt das zusammen?

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Tunesien ist nicht einfach irgendein Land für die Europäische Union. Es ist ein strategischer Partner. Die mit 900 Millionen Euro dotierte Zusammenarbeit mit dem tunesischen Präsidenten Kaïs Saïed, vereinbart im Jahr 2023, soll den Staat finanziell stabilisieren und die Wirtschaft modernisieren – im Gegenzug erwartet die EU, dass die tunesische Regierung Fluchtwege Richtung Europa schließt. Mitte vergangener Woche schlug die von Ursula von der Leyen geführte EU-Kommission zudem vor, im europäischen Asylrecht Tunesien zu einem sicheren Herkunftsland zu erklären. Tunesien ein Land, in dem niemand politisch verfolgt wird?

In Tunis sahen zur selben Zeit rund 40 Angeklagte ihrem Urteil wegen angeblicher Verschwörung gegen die Staatssicherheit entgegen. Es handelte sich allem Anschein nach um einen inszenierten Prozess gegen Männer und Frauen, von denen sich der autokratisch regierende Präsident Saïed in irgendeiner Form in seiner Macht bedroht sieht.

Angeklagt: Politiker, Geschäftsleute, Journalisten, Feministinnen – und Bernard-Henri Lévy

Angeklagt war ein Querschnitt der tunesischen Gesellschaft: liberale wie islamistische Politiker, Geschäftsleute, Journalisten, Menschen aus der tunesischen Zivilgesellschaft. Als Kopf der angeblichen Verschwörung galt ein Unternehmer, der schon Verbindungen zum einstigen tunesischen Diktator Ben Ali unterhielt. Aber auch Feministinnen zählten dazu.

Auf der Liste der Angeklagten fand sich sogar der französische Intellektuelle Bernard-Henri Lévy. Medienberichten zufolge warf man ihm sowohl „Freimaurertum“ als auch Verbindungen zum israelischen Geheimdienst Mossad vor. Er habe den tunesischen Staat unterwandern wollen.

Die Öffentlichkeit war weitgehend ausgeschlossen, laut Medienberichten wurde nicht einmal die Anklageschrift verlesen. Nach einem Schnellverfahren verkündete das Gericht seine Urteile am Samstag im Morgengrauen: Haftstrafen zwischen 13 und 66 Jahren. Lévy wurde zu 33 Jahren Haft verurteilt, in Abwesenheit natürlich.

Die Familien und Vertreter der Angeklagten sowie zivilgesellschaftliche Organisationen protestierten heftig. Von „Wahnsinn“, von einem „politischen Urteil“ und von „Justizmord“ war die Rede. „Dieser Prozess ist eine Beleidigung der Intelligenz, eine Ohrfeige für das Recht und Spucke ins Gesicht des Rechtsstaats“, schrieb Kamel Jendoubi, ehemaliger tunesischer Minister und Menschenrechtsaktivist, auf Facebook.

Oppositionelle spüren ein Klima wie unter dem Diktator Ben Ali

Der Anwalt Ahmed Souab, einer der bekanntesten des Landes, sprach vor Fernsehkameras davon, es seien nicht die Angeklagten gewesen, die in diesem Prozess „das Messer an der Kehle“ gespürt hätten, sondern der Vorsitzende des Gerichts. Er machte dazu eine Geste des Halsabschneidens. Souab wurde deshalb am Wochenende wegen „terroristischer Vergehen“ in Untersuchungshaft gesteckt.

Seine Anwaltskollegen beharren darauf, Souab habe keinesfalls den Richter bedrohen, sondern ausdrücken wollen:  Präsident Kaïs Saïed habe die diffuse Anklageschrift in Auftrag gegeben und dem Gericht das Messer an die Kehle gesetzt, um harte Urteile zu erzwingen.

Der Prozess zeugt von einem Klima der zunehmenden Repression in Tunesien. Kaïs Saïed, 2019 erstmals zum Präsidenten gewählt, suspendierte am 25. Juli 2021 das Parlament, setzte den amtierenden Premierminister ab und berief eine neue Regierung. Auch die Justiz brachte er später unter seine Kontrolle. Im Juli 2022 ließ er sich einen weiteren Machtzuwachs in einem Referendum bestätigen. Oppositionelle klagen, in dem Land herrschten wieder dieselben Verhältnisse wie unter Diktator Ben Ali, der im Arabischen Frühling 2011 gestürzt wurde.

Für die EU scheint sich der Flüchtlingsdeal ausgezahlt zu haben

In der EU galt die Partnerschaft mit Tunesien als Blaupause für mittlerweile ebenfalls geschlossene Abkommen mit Mauretanien, Ägypten oder Libanon. Sie wurde eingefädelt von der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni in Abstimmung mit Ursula von der Leyen. Der Deal scheint sich für die EU ausgezahlt zu haben, denn die Zahl der von Tunesien übers Mittelmeer Richtung Italien geflüchteten Migranten ist stark gesunken. Das gilt sowohl für Menschen, die aus der Subsahara über Tunesien Richtung Europa flüchten, als auch für Bürgerinnen und Bürger Tunesiens.

Die EU-Mitgliedsländer und das Europaparlament müssen sich nun über den Vorschlag der Kommission verständigen, Tunesien auf die erste gesamteuropäische Liste von sicheren Herkunftsländern zu setzen. Das nordafrikanische Land erschiene damit in einer Reihe mit den offiziellen EU-Beitrittskandidaten (Ausnahme: Ukraine) sowie Kosovo, Bangladesch, Kolumbien, Ägypten, Indien und Marokko. Zehn EU-Staaten haben den Schritt bereits auf nationaler Ebene vollzogen. Das heißt, Asylanträge von tunesischen Bürgerinnen und Bürger werden grundsätzlich im Schnellverfahren behandelt. Die EU-weite Anerkennungsquote lag 2024 bei lediglich vier Prozent.

Die Kommission kommt zu dem Urteil, zwar gebe es in Tunesien Repressionen gegen Oppositionelle und sexuelle Minderheiten. Aber es handle sich nicht um systematische Verfolgung. Deshalb könne „der Schluss gezogen werden, dass die tunesische Bevölkerung im Allgemeinen nicht Verfolgung oder der Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist“. Und weiterhin werde jeder Antrag auf Asyl individuell geprüft.

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