Süddeutsche Zeitung

Außenministertreffen in Brüssel:Welche Strafen die EU gegen die Türkei verhängen könnte

Vor dem EU-Gipfel hat der Außenbeauftragte Borrell einen Bericht über den Stand der Beziehung zur Türkei verfasst. Sollte Präsident Erdoğan den Kurs der Deeskalation beenden, könnte der Tourismus ins Visier geraten.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Beim Treffen der EU-Außenminister in Brüssel wird der Außenbeauftragte Josep Borrell am Montag einen Bericht über den "aktuellen Stand der politischen, wirtschaftlichen und Handelsbeziehungen" zwischen der EU und der Türkei vorlegen. Das Dokument, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, war von den Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel im Dezember 2020 in Auftrag gegeben worden. Damals hatte vor allem Deutschland Sanktionen verhindert und dafür gesorgt, dass der Türkei eine Positivagenda in Aussicht gestellt wurde, wenn diese ihr Verhalten ändert.

Nach monatelangen Provokationen hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im November erklärt, die Türkei "wolle ihre Zukunft mit Europa bauen". 2021 hat sich Ankaras Werben intensiviert, doch das Misstrauen sitzt tief. Gerade Griechenland und Zypern sowie Frankreich und Österreich hatten darauf bestanden, dass der Bericht auch mögliche Strafmaßnahmen gegen die Türkei aufführt. Die aktuelle Fassung, die bis zum EU-Gipfel am Donnerstag noch verändert werden dürfte, umfasst 15 Seiten und der brisanteste Teil steht am Ende: Sollte die Türkei zurückkehren zu ihren "unilateralen Handlungen oder Provokationen", die das Völkerrecht verletzen, so müsste sie "politische und wirtschaftliche Konsequenzen" spüren.

Als mögliche Strafmaßnahmen, die umkehrbar sein sollten, werden fünf Punkte genannt: Die im Dezember im Grundsatz beschlossenen Strafen gegen Mitarbeiter des Energiekonzerns TPAO wegen der nicht genehmigten Bohrtätigkeiten der Türkei im östlichen Mittelmeer könnten beschlossen und die bestehenden Sanktionsregime ausgeweitet werden. Erwogen wird auch eine Einschränkung der Wirtschaftskooperation, etwa durch weniger Engagement der Europäischen Investitionsbank.

Punkt vier schlägt vor, "für die türkische Wirtschaft wichtige Sektoren" ins Visier zu nehmen, und nennt explizit den Tourismus: Die EU-Mitglieder könnten etwa Reisewarnungen aussprechen. 2019, kurz vor der globalen Pandemie, kamen 52 Millionen Touristen in die Türkei; die Branche sorgt laut Welttourismusorganisation WTTC für zwölf Prozent des Bruttoinlandprodukts; lediglich die Baubranche sei wichtiger. Zuletzt könnte der Energiesektor getroffen werden, durch ein Verbot der Ein- und Ausfuhr von "bestimmten Gütern und Technologien".

Seit Dezember 2020 habe sich die Türkei "ruhiger und konstruktiver" verhalten

Borrells Bericht besteht zum größten Teil in einer nüchternen Analyse, die jedoch nicht mit Kritik spart. Dass sich die bilateralen Beziehungen immer weiter verschlechtert hätten, liege "vor allem an den türkischen Aktionen im östlichen Mittelmeer", wo die Rechte Zyperns direkt in Frage gestellt würden, sowie an einem "scharfen Anstieg der türkischen Provokationen gegenüber Griechenland". Daneben werden in dem Bericht die Militärinterventionen Ankaras in Libyen und Syrien scharf kritisiert; zuletzt habe die Türkei außerdem in der Region Bergkarabach aufgehört, "eine friedliche Beilegung anzustreben und Aserbaidschans Drängen nach einer militärischen Lösung unterstützt".

Der Bericht beschreibt detailliert, wie in der Türkei, die seit 2005 EU-Beitrittskandidat ist, Reformen zurückgenommen wurden und die Demokratie abgebaut wurde.

Seit Wochen wurde in Brüssel erwartet, dass die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel die Kommission beauftragen, Vorschläge zu machen, um die 2016 geschlossene "EU-Türkei-Vereinbarung" zu Migrationsfragen fortzusetzen. Dazu heißt es im allerletzten Absatz, dass die Kommission "schnell Optionen vorbereiten" wird, um Flüchtlinge und aufnehmende Gemeinden zu unterstützen. Am Prinzip, dass Hilfsorganisationen die syrischen Flüchtlinge in der Türkei versorgen, will die EU festhalten: "Wir haben ein echtes Eigeninteresse daran, auf diesen Erfolgsgeschichten der letzten Jahre aufzubauen."

Der Bereich der "Schlussfolgerungen" beginnt auf Seite 13 und beschreibt auch die "Positivagenda" genauer, also die Anreize für Ankara, um sich kooperativ zu zeigen. Seit Dezember 2020 habe sich die Türkei "ruhiger und konstruktiver" verhalten, heißt es, aber der Prozess der Deeskalation bleibe fragil. "Wir brauchen mehr Zeit für die Beurteilung, ob er nachhaltig und glaubwürdig ist sowie bleibende Ergebnisse liefert", schreibt Borrell und verweist auch auf die "sich verschlechternde innenpolitische Lage in der Türkei".

Um die Beziehungen zu verbessern, werden ebenfalls fünf Punkte genannt, die nacheinander und schrittweise angegangen werden könnten. So sollen Teile der "EU-Türkei-Vereinbarung", von denen beide profitieren, besser umgesetzt werden: Die Türkei solle jene Geflüchteten zurücknehmen, deren Rechtsmittel ausgeschöpft sind. Konkret genannt werden 1450 Menschen, die sich auf den griechischen Inseln befinden. Im Gegenzug sollten die EU-Mitglieder mehr tun, um syrische Flüchtlinge umzusiedeln, die sich in der Türkei befinden - "allen voran die verletzlichsten Gruppen".

Erdoğan weiß nun, was ihn erwartet

Als dritter Punkt werden engere Wirtschaftsbeziehungen genannt, die für beide Seiten von Vorteil wären. Wie stark die wirtschaftliche Verflechtung ist, verdeutlichen zwei Zahlen, die in Borrells Bericht stehen. 41 Prozent der türkischen Exporte gehen in die Europäische Union. Und die EU ist mit 58,5 Milliarden Euro im Jahr 2018 der "mit Abstand größte ausländische Investor" gewesen. Zentral für die Wirtschaftskooperation wäre die Modernisierung und Erweiterung der Zollunion. Hierfür müssten die 27 Mitgliedstaaten jedoch der Kommission ein Verhandlungsmandat erteilen. Als denkbar gilt, dass die Kommission, von den Staats- und Regierungschefs beauftragt, zunächst eine Modernisierung der Zollunion ergebnisoffen prüfen soll - damit würden Griechen, Zyprer oder Franzosen, die der Türkei besonders kritisch gegenüberstehen, erst mal nichts aus der Hand geben.

Zudem wird der Türkei die Wiederaufnahme von "hochrangigen Dialogen" in Aussicht gestellt. Der letzte Punkt widmet sich den Beziehungen zwischen den Menschen, wozu neben dem umstrittenen Wunsch der Türken nach Visaliberalisierungen auch die Teilnahme von Türkinnen und Türken an Programmen wie Erasmus gehören könnte.

Er habe getreu dem Auftrag der Staats- und Regierungschefs "Instrumente und Optionen für das weitere Vorgehen" vorgelegt, schreibt der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell in der Einleitung seines Berichts. Welche Schlüsse Bundeskanzlerin Angela Merkel und die 26 anderen Mitglieder des Europäischen Rates aus diesem Dokument beim virtuellen EU-Gipfel am Donnerstag ziehen, ist offen. Aber Präsident Recep Tayyip Erdoğan weiß nun genauer, welche Folgen seine künftigen Aktionen haben könnten.

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