Süddeutsche Zeitung

EU-Türkei-Beziehungen:Erkundungsreise zu Erdoğan

EU-Kommissionschefin von der Leyen und Ratspräsident Michel treffen den türkischen Präsidenten in Ankara. Die große Frage: Wie nachhaltig ist dessen Interesse an einer Zusammenarbeit?

Von Matthias Kolb, Brüssel

Die Vertreter der Europäischen Union reisen getrennt an, aber sie haben die gleiche Botschaft für Gastgeber Recep Tayyip Erdoğan: Es liegt an der Türkei, ob sie die Beziehungen zur EU verbessern will, wovon ihre Unternehmen und ihre Bürger profitieren würden. Ende März hatten die Staats-und Regierungschefs der Türkei eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie erste Schritte für eine Modernisierung der Zollunion in Aussicht gestellt, nachdem Ankara 2021 weitgehend auf Provokationen verzichtet hat.

Weil in der Abschlusserklärung des EU-Gipfels auch "Dialoge auf hoher Ebene" erwähnt wurden, überrascht es kaum, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel nun Erdoğan treffen. Sie wollen herausfinden, wie nachhaltig Ankaras Interesse am "konstruktiven Dialog" ist, und dürften den "Zuckerbrot und Peitsche"-Ansatz der EU betonen: Man verspricht Belohnungen bei angemessenem Verhalten, aber hält die Drohung von Sanktionen aufrecht. So entstand die von allen 27 Staats- und Regierungschefs unterstützte Formulierung, als EU "auf abgestufte, verhältnismäßige und umkehrbare Weise" mit der Türkei in Verbindung treten zu wollen. Gerade im Migrationsbereich will Brüssel weiter kooperieren.

Verhandlungen werde es zwischen Erdoğan und den EU-Spitzen nicht geben, hieß es vorab. Man wolle vielmehr einen Rahmen für den weiteren Weg abstecken. Eine Marke steht bereits fest: Beim EU-Gipfel im Juni steht die Türkei erneut auf der Tagesordnung.

Abwahl Trumps und türkische Wirtschaftskrise als Faktoren für Erdoğans Charmeoffensive

Während von der Leyen direkt nach Ankara fliegt, hat Michel zuvor auch Tunesien und Libyen besucht: Im Bürgerkriegsland traf er die Spitzen der neuen Übergangsregierung sowie des Präsidialrates und sicherte dem libyschen Volk die Unterstützung der Europäer zu. Als Voraussetzung für ein "stabiles, vereintes, souveränes und wohlhabendes Libyen" nannte er neben einem Waffenstillstand auch, dass ausländische Kämpfer und Soldaten das Land verlassen müssten. Diese Kritik zielt nicht nur auf die Vereinigten Arabischen Emirate oder Russland, das Söldner der Wagner-Gruppe entsandt hat, sondern auch auf die Türkei: Erdoğan griff 2019 auf Seiten der damaligen international anerkannten Regierung in Tripolis in den Libyen-Konflikt ein und hat seither seinen Einflussbereich weit ausgebaut.

Die "unterschiedlichen Interessen in Regionalkonflikten, besonders in Libyen und Syrien" hat der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell gerade als eines der vier größten Spannungsfelder zwischen der Türkei und der EU identifiziert. Weitere Streitpunkte seien die ungelöste Zypernfrage, der Streit um Erdgasvorkommen und Hoheitsrechte im östlichen Mittelmeer sowie die "Verschlechterung demokratischer Standards in der Türkei". Diese Entwicklung treibt auch US-Präsident Joe Biden so sehr um, dass er sie beim EU-Gipfel in der Videokonferenz ansprach. Laut EU-Diplomaten stehen Europäer und Amerikaner seit Wochen in engem Austausch und haben die gleichen Ziele: Das Nato-Mitglied Türkei soll nicht in die Arme von Russland und China getrieben werden. Die Abwahl von Donald Trump sowie die türkische Wirtschaftskrise sind wichtige Faktoren für Erdoğans Charmeoffensive.

Bevor sie den türkischen Präsidenten treffen, wollten von der Leyen und Michel mit Mitarbeitern des UN-Flüchtlingshilfswerks, des Kinderhilfswerks Unicef sowie der Internationalen Organisation für Migration zusammenkommen. Auch die Organisation UN Women, die sich für Gleichstellung und Frauenrechte einsetzt, wird vertreten sein. Nachdem Erdoğan kürzlich den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt verkündete, hatte von der Leyen auf Twitter dieses Übereinkommen des Europarats verteidigt. Michel, der alle 27 Regierungen vertritt, hatte den Schritt hingegen öffentlich nicht kommentiert, denn auch sechs EU-Länder haben die Istanbul-Konvention nicht ratifiziert.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5255534
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/mala/bepe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.