Süddeutsche Zeitung

EU-Terrorliste:Fragwürdige Verfolgung

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Justiz vs. Politik: Juristen vermuten hinter den Kriterien der EU-Terrorliste politische Motivation und werfen EU-Regierungen Machtmissbrauch vor.

Cornelia Bolesch

Europas Antiterror-Politik gerät ins Zwielicht. Es geht um die Glaubwürdigkeit der sogenannten EU-Terrorliste. Personen und Organisationen, die auf dieser Liste geführt werden, gelten als militant und werden verfolgt. Ihre Bankkonten in Europa werden eingefroren.

Doch der Eindruck verstärkt sich, dass die Liste nicht auf rechtsstaatlichen Prinzipien beruht, sondern politischen Spielregeln gehorcht. So steht die libanesische, vom Iran finanzierte Terrororganisation Hisbollah nicht auf der Liste. Die Oppositionsgruppe Iranische Volksmudschaheddin (PMOI) hingegen, die vom Regime in Teheran verfolgt wird, steht seit 2002 auf der Liste, obwohl der Europäische Gerichtshof diese Entscheidung für nichtig erklärt hatte.

Eine Konferenz internationaler Juristen hat deshalb in dieser Woche in Brüssel schwere Vorwürfe gegen die EU-Regierungen erhoben. "Wir haben es mit einem brutalen Fall von Machtmissbrauch zu tun", klagte Antonio Cassese, der frühere Präsident des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag.

Cassese und andere Juristen wie der britische Richter Lord Slynn of Hadley und Strafrechtsprofessoren erklärten, die EU hätte die Sanktionen gegen die iranischen Volksmudschaheddin spätestens im Juli diesen Jahres aufheben müssen. Damals war den Sicherheitsexperten, die im Auftrag der Regierungen zweimal im Jahr die EU-Terrorliste überprüfen, der Hauptankläger gegen die Gruppe abhanden gekommen.

Die britische Regierung hatte beantragt, die iranischen Oppositionellen zu verfolgen. Doch als die Experten in diesem Sommer im Brüsseler Ratsgebäude zusammenkamen, musste London bekennen, dass es die PMOI nicht mehr als Terrororganisation führen darf. Das Oberste Gericht in Großbritannien hatte dem britischen Innenminister praktisch befohlen, die Vorwürfe fallen zu lassen. Die Richter hatten "keine Beweise" gegen die Gruppe gefunden, auch nicht in den Papieren des Geheimdienstes, und hatten die Politik der Regierung sogar "pervers" genannt.

Beweise zerpflückt

Dessen ungeachtet hält die EU weiterhin an den Sanktionen gegen die Iraner fest, die nach den Terroranschlägen des 11. September öffentlich der Gewalt abgeschworen hatten. Nun war es plötzlich Frankreich, das "neue Beweise" vorlegte. Auf der Juristenkonferenz in Brüssel wurden auch diese zerpflückt.

"Es sind die alten Verdächtigungen", so Antonio Cassese. Die Präsidentin der Dachorganisation iranischer Oppositioneller, Maryam Rajavi, warf der französischen Regierung vor, sie beuge sich dem politischen Druck des Mullah-Regimes in Teheran und der Lobbyarbeit von Firmen, die um ihre Ölförderrechte im Iran fürchten.

Im Europaparlament und in nationalen Parlamenten wächst der Widerstand gegen eine EU-Politik, die sich weigert, höchstrichterliche Urteile zu befolgen. In Großbritannien hat sich fast das gesamte Parlament mit den Richtern gegen die Regierung verbündet. Im Europaparlament starteten Abgeordnete aus vier Fraktionen eine Initiative, um die Hisbollah auf die Terrorliste zu setzen.

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SZ vom 19.09.2008/hai
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