Wenn Europa sein Schuldenproblem lösen will, wenn die Welt-Leitwährung Euro vor dem Kollaps gerettet, Volkswirtschaften vor dem Bankrott bewahrt, soziale Unruhen verhindert werden sollen - dann sollte man von den Regierungen, den Parlamenten und einem gut geführten Beamtenheer ein Höchstmaß an Konzentration, Diskretion und Zielstrebigkeit erwarten.
Das Wochenende wird lehren, dass Europa mit dieser Arbeit überfordert ist. Die Staaten der EU, und hier besonders Frankreich und Deutschland, bringen nicht die nötige Konzentration auf, um ihren politischen und ökonomischen Verbund aus seiner größten Krise zu führen. Nachdem bereits im Sommer die Hoffnung auf eine Erlösung von der Krise enttäuscht worden war, spielt sich nun die zweite, möglicherweise größere Katastrophe ab: statt eines Fanfarenstoßes erst mal nur altes Blech. Die Politik meldet sich nicht in voller Stärke und Überzeugungskraft, nein, sie zaudert und zankt. Die Euro-Staaten demonstrieren nicht ihre Überlegenheit über die Finanzmärkte. Sie zeigen, wie schwach sie sind.
Niemand wollte den europäischen Sonder-Gipfel am Wochenende mit Erwartungen überfrachten. Natürlich ist unklar, wie Italien und seine fast schon kriminell handlungsunwillige Regierung den nächsten Spekulationsschock aussitzen wollen. Auch ist ungewiss, ob ein Versicherungsmodell für den Rettungsfonds EFSF tatsächlich genügend Vertrauen erzeugen würde, um ausreichend Kapital für neue Staatsanleihen zu mobilisieren.
Nun aber bleibt es nicht bei diesen Unwägbarkeiten. Es kommt die politpsychologisch fatale Verschiebung des Gipfels hinzu. Selbst wenn sich irgendwann nächste Woche der von Kommissionspräsident José Manuel Barroso herbeigesehnte Bazooka-Schuss löst - die EU hat sich erst einmal selbst angeschossen.
Denn wenn die Euro-Staaten eines in anderthalb Krisenjahren hätten lernen müssen, dann dies: Unentschlossenheit und Halbherzigkeit werden bestraft. Sie verschärfen jede Krise, statt sie abzumildern. So konzentrierte sich eben doch alles auf diesen Wochenendgipfel, so wurde ein Signal der Stärke, ein Beleg für die Handlungsfähigkeit der EU erhofft, nachdem die nationalen Parlamente quälende Monate mit einer Vertragsänderung vertan haben. Dass diese Hoffnungen nun zerstört wurde, liegt an den Konstellationen der Tagespolitik, es liegt an den Akteuren und an strukturellen Hindernissen, die Europa mehr bremsen, als das manch einer zugeben mag.
Irrlicht gegen Stoikerin
Was auch immer zwischen dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel am Mittwochabend in Frankfurt vorgefallen ist: Die Eskalation war zu diesem Zeitpunkt unnötig und bleibt bis heute unverständlich. Sarkozy hätte schon längst verstanden haben müssen, dass ihm die Europäische Zentralbank nicht als Gelddruckmaschine zur Verfügung stehen kann. Warum er dennoch die Konfrontation suchte, bleibt ein Rätsel. Hier offenbarte sich wieder einmal der irrlichternde Charakter eines Mannes, der stets kollidiert mit dem emotionslosen Stoizismus und der buchhalterischen Präzision Angela Merkels. Die Beziehungsgeschichte dieser beiden für Europas Geschicke so zentralen Persönlichkeiten steckt bestenfalls voller Missverständnisse. Wahrscheinlicher ist, dass sie sich schlicht nicht ausstehen können.
Für die Gipfelverschiebung trägt Merkel aber die eigentliche Verantwortung - der bockige Sarkozy war daran nicht schuld. Das Problem liegt vielmehr bei den Abgeordneten des Bundestags. Die haben der Exekutive Handschellen angelegt. Die Lust am Mitregieren ist bis in die Hinterbänke des Bundestags vorgedrungen. Die vom Bundesverfassungsgericht und dem Parlament erzwungene Beteiligung an den Entscheidungsprozessen in Sachen Euro nimmt der Exekutive das Gestaltungsprivileg.
Nirgendwo in Europa ist eine Regierung derart eng an das Votum des nationalen Parlaments gebunden. Nirgendwo sonst wirken sich die inneren Zerwürfnisse einer Mehrparteienkoalition derart lähmend auf das Weltgeschäft aus. Ob beim Mikromanagement des Bundestags bei der Einsatz-Mandatierung der Bundeswehr oder nun bei der Euro-Rettung - Deutschland und sein politisches System versuchen alles gleichzeitig zu sein: europäische Supermacht und Gemeinderat, Währungsretter und Sparkassen-Filialleiter. Auch so offenbart sich das tiefe Misstrauen, dass die Politik hierzulande gegenüber der eigenen Macht hegt.
620 Nebenkanzler
Nun ist ein Gipfel zum Verhandeln da. Die Hebelfunktion des Rettungsfonds, die Höhe des Schuldenschnitts für Griechenland, die Beteiligung der Banken daran - all das muss zwischen Regierungen verhandelt werden. Die Bundesregierung aber kann sich in diesem Spiel nicht mehr in der gebotenen Flexibilität bewegen, sie braucht zuvor den Bundestag. Das Parlament wird zur Nebenexekutive mit 620 Nebenkanzlern, von denen viele provinziell krähen, wenn ihnen ein Text auf Englisch vorgelegt wird. So bleibt das für die Euro-Rettung lebenswichtige Signal erst mal aus. Man trifft sich halt mittwochs noch mal zum Gipfel.
Das Parlaments-Problem deutet auf das eigentliche Dilemma hin, das die Währungsrettung von Beginn an begleitet: Europa hat längst sein demokratisches Korsett gesprengt. Die Union bewegt sich als ökonomischer Riese in einer globalisierten Welt. Täte sie das nicht, ihre Mitglieder würden als Zwerge der Weltgeschichte hinweggeschwemmt von den gewaltigen Handelsströmen aus China oder Amerika etwa.
Mit der Währung suggeriert die EU, dass ihr ökonomisches Gewicht auch geldpolitisch eine Entsprechung hat. Hat es aber nicht, denn zur Geldpolitik gehört auch die Haushalts- und Finanzpolitik - und die macht jede Nation noch brav alleine. Wenn der Euro-Gipfel nun einen finanzpolitischen Pflock nach dem anderen einschlägt, kommt es naturgemäß zu Reibungen mit den nationalen Parlamenten, deren zentrales Recht die Kontrolle der Haushalte ist. In Deutschland ist aus der Kontrollfunktion eine Gestaltungsmacht geworden. In keinem anderen Land Europas singt die Politik so süß das Lied vom Souveränitätsverzicht zugunsten der EU. In keinem Land aber wird gleichzeitig so heftig um die Erhaltung eben jener nationalstaatlichen Souveränität gerungen.
So kriselt es dahin. Die Mehrheit der Wähler und die wachsende Zahl der Nichtwähler verabschieden sich aus der Debatte und vereinfachen das durchaus komplexe Problem auf den Nenner: Die können es nicht, weg mit ihnen, her mit dem wärmenden Mäntelchen der Nation. Und weil sich auch hinter "den" Märkten Menschen verstecken, darf befürchtet werden, dass sie ähnlich kenntnisreich reagieren. Verübeln kann man es ihnen nicht wirklich, ärgerlich nur, dass sie Milliarden bewegen. Verübeln kann man nur den politischen Lenkern Europas und den Staatenlenkern im Deutschen Bundestag, dass sie in dieser Existenzkrise das Gespür für die Bedeutung des Augenblicks verloren haben.