Süddeutsche Zeitung

Neue Sanktionen:EU boykottiert russische Kohle

Unter dem Eindruck von Kriegsverbrechen in der Ukraine legt Kommissionspräsidentin von der Leyen ein fünftes Sanktionspaket vor. Weitere Banken werden für internationale Transaktionen gesperrt.

Von Andrea Bachstein und Josef Kelnberger, Brüssel/München

Als Reaktion auf die Gräueltaten an Zivilisten im ukrainischen Butscha hat die Europäische Union am Dienstag ihr fünftes Sanktionspaket gegen Russland vorgelegt. Die offenbaren Kriegsverbrechen in der Kleinstadt bei Kiew haben nach aller Wahrscheinlichkeit Truppen des russischen Machthabers Wladimir Putin begangen. "Diese Grausamkeiten können und werden nicht unbeantwortet bleiben", sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Mit den mutmaßlichen Kriegsverbrechen in der Ukraine sollte sich am Dienstag auch der Weltsicherheitsrat in New York befassen.

Die EU-Staaten wollen bei den neuen Maßnahmen gegen Moskau weiter nicht auf Gas und Öl, aber auf Kohleimporte im Wert von vier Milliarden Euro aus Russland verzichten. Als zweiten Punkt der Sanktionen nannte von der Leyen den Vorschlag eines völligen Transaktionsverbots für vier wichtige russische Banken, darunter VTB, Russlands zweitgrößte Bank. Diese vier Banken hätten 23 Prozent des russischen Marktanteils. Außerdem solle russischen und von Russland betriebenen Schiffen untersagt werden, EU-Häfen anzulaufen. Ausnahmen gebe es nur für lebensnotwendige Güter. Auch sollen russische und belarussische Transportunternehmen nicht mehr in der EU tätig sein. Dies schränke Russlands Möglichkeiten zur Beschaffung von Schlüsselgütern drastisch ein, erklärte von der Leyen. Dazu seien Exportverbote für sensible Bereiche geplant, etwa für Quantencomputer, Halbleiter und wichtige Maschinen, es gehe um Güter im Wert von zehn Milliarden Euro. "Damit werden wir Russlands technologische Basis und industrielle Kapazität weiter abbauen", sagte von der Leyen. Des Weiteren nannte sie spezifische Importverbote, etwa für Holz, Zement und Spirituosen, die 5,5 Milliarden Euro umfassten.

Die deutsche Russlandpolitik müsse kritisch aufgearbeitet werden, sagt Christian Lindner

Dass die EU-Staaten die Sanktionen absegnen, gilt als Formsache. Die Bundesregierung signalisierte bereits Zustimmung. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) erklärte laut dpa sein Einverständnis mit dem Kohle-Stopp, er hatte zuvor als Ziel ausgegeben, dass Deutschland bis Sommerende unabhängig von russischer Kohle werde. Finanzminister Christian Lindner (FDP) sagte am Rande eines EU-Treffens in Luxemburg, es gehe nicht um kurzfristigen Verzicht. "Mit einem Russland, dessen Regierung offensichtlich verbrecherischen Charakter hat, wird man sehr lange nicht zusammenarbeiten können." Es sei ein Fehler gewesen, die Energieversorgung so stark von Russland abhängig zu machen: "Die deutsche Russlandpolitik der Vergangenheit muss kritisch hinterfragt und aufgearbeitet werden."

Die Sanktionen sollen schnell in Kraft treten. An diesem Mittwoch beschäftigen sich die EU-Botschafter der 27 Staaten damit, dann müssen alle Regierungen schriftlich ihr Einverständnis geben. Am Donnerstagabend könnte alles im Amtsblatt der EU veröffentlicht sein und wäre dann gültig.

Von der Leyen, die diese Woche mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in die ukrainische Hauptstadt Kiew reisen will, gab auch bekannt, dass die EU mit der ukrainischen Regierung eine Task Force bilden werde, um Beweise zu sammeln für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ebenso wollen die USA Beweismaterial zusammentragen, um Russland und Präsident Wladimir Putin wegen Kriegsverbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshof oder ein anderes Gericht zu bringen, teilte der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan mit. US-Präsident Joe Biden nannte Putin erneut einen Kriegsverbrecher. "Ihr habt gesehen, was in Butscha passiert ist", sagte Biden in Washington.

Russland behauptet indes weiter, Berichte über Butscha seien nur westliche Propaganda zur Diskreditierung Russlands. Der Ex-Präsident und Putin-Vertraute Dmitrij Medwedjew sagte: "Sie wurden für viel Geld fabriziert." Das Verteidigungsministerium in Moskau warf der Ukraine vor, Spezialeinheiten hätten angebliche Tötungen von Zivilisten inszeniert. Am selben Tag legte der US-Satellitenbetreiber Maxar Technologies Bilder vor, auf denen in Butscha bereits während der russischen Besatzung Leichen zu sehen sein sollen. Die Firma teilte mit, die Aufnahmen zeigten, dass die Toten wochenlang auf den Straßen lagen. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij sprach von mindestens 300 dort getöteten Zivilisten, in anderen Städten könne die Zahl höher sein. Selenskij sollte am Dienstagabend dem UN-Sicherheitsrat zugeschaltet werden.

Die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland gingen indes weiter, meldete die Agentur Interfax unter Berufung auf das russische Außenministerium. Kremlsprecher Dmitrij Peskow sagte, Russland lehne ein Treffen Putins mit dem ukrainischen Präsidenten nicht ab, doch erst müsse es ein Abkommen geben. Selenskij hatte zuvor Verhandlungen als schwer, aber "einzige Option" bezeichnet.

Die von Deutschland mitorganisierte Konferenz zur Unterstützung des Ukraine-Nachbarn Moldau hat sich in Berlin verständigt, dem vom Krieg besonders betroffenen Land 695 Millionen Euro Hilfszahlungen zur Verfügung zu stellen, wie Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) mitteilte. Sie kündigte außerdem an, Deutschland prüfe die Lieferung weiterer Waffensysteme an die Ukraine.

Italien und Dänemark wiesen am Dienstag Dutzende russische Diplomaten wegen mutmaßlicher Spionagetätigkeit aus, wie zuvor bereits Deutschland. Medwedjew, der Vizevorsitzender des russischen Sicherheitsrates ist, kündigte in diesem Zusammenhang an, Moskau werde auf die Ausweisung seiner Diplomaten ebenso reagieren und die Türen zu den westlichen Botschaften zuschlagen: "Das wird für alle billiger sein. Und dann werden wir uns am Ende nur noch mit dem Gewehr im Anschlag gegenüberstehen."

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