Die Bundesregierung hatte lange gezögert, denn die politischen Risiken des Vorhabens sind in der Tat enorm. Nun jedoch hat Kanzler Friedrich Merz (CDU) entschieden, die Rolle des Bremsers aufzugeben und sich an die Spitze der Bewegung zu setzen: Um die Ukraine im Abwehrkampf gegen die russischen Invasoren zu unterstützen, soll die EU-Kommission die vom Westen eingefrorenen Geldreserven der Moskauer Zentralbank nutzen und sie in einen zinslosen 140-Milliarden-Euro-Kredit an Kiew verwandeln. Damit, so Merz in einem Gastbeitrag für die britische Financial Times, wäre „die militärische Durchhaltefähigkeit der Ukraine auf mehrere Jahre abgesichert“. Die Idee deckt sich weitgehend mit den Plänen, die Brüssel auch selbst verfolgt.
Hintergrund des Merz’schen Sinneswandels ist nicht etwa eine Neubewertung der Rechts- und Finanzrisiken, sondern ein Mix aus mehreren ernüchternden Erkenntnissen. So steht die EU zwar seit 2022 weitgehend geschlossen an der Seite der Ukraine, die nötigen Milliardenbeträge zur Unterstützung Kiews kommen aber stets nur mühsam zusammen.
Der Kreml hält die Brüsseler Pläne für „Raub“
Angesichts der Haushaltsnöte in vielen Staaten – auch in Deutschland – dürfte der Prozess in Zukunft noch komplizierter werden. Zudem fallen die USA als Geldgeber zunehmend aus, seit Donald Trump das Land führt. Russlands Präsident Wladimir Putin konnte deshalb bisher darauf hoffen, dass der Ukraine irgendwann schlicht die Mittel ausgehen werden. Merz will dieses „zynische Zeitspiel“ nun durchkreuzen und Putin „an den Verhandlungstisch zwingen“.
Wie aber soll das funktionieren? Ausgangspunkt sind russische Währungsreserven, die das belgische Finanzhaus Euroclear für Moskau verwahrt und die aktuell 186 Milliarden Euro wert sind. Mit Beginn des Angriffskrieges fror die EU die Konten ein, Russland kann seither nicht mehr darauf zugreifen. Da mittlerweile viele Wertpapiere ausgelaufen sind, hat Euroclear das Geld jetzt in bar bei der Europäischen Zentralbank (EZB) angelegt. Die Zinsen kassiert die Gruppe der sieben führenden Industriestaaten (G7), um damit einen Kredit im Volumen von 45 Milliarden Euro zu bedienen, den sie der Ukraine bereits gewährt hat.
Russland hält bereits die Verwendung der Zinserlöse für „Raub“, die G-7-Staaten dagegen sehen ihr Vorgehen durch das Völkerrecht gedeckt. Anders sieht es bei den eigentlichen Reserven aus: Sie können nach allgemeiner Rechtsauffassung aufgrund der sogenannten Staatenimmunität nicht enteignet werden. Täte man es doch, schüfe man einen gefährlichen Präzedenzfall. Folge wäre womöglich, dass andere Zentralbanken ihre Guthaben aus Europa abzögen und Währungsreserven zum politischen Spielball würden – auch um Reparationsforderungen aus früheren Kriegen durchzusetzen, etwa gegenüber Deutschland.
Formal soll Moskau Eigentümer der Währungsreserven bleiben
Der EU-Plan sieht deshalb vor, dass Russland formal Eigentümer der Reserven bleibt, Euroclear das Geld aber bei der EZB abzieht und an die Kommission überweist. Brüssel würde es in Tranchen an die Ukraine auszahlen, die dafür Waffen in Europa kaufen könnte. Als Gegenleistung erhielte Euroclear unverzinste EU-Schuldtitel im gleichen Wert, für deren Rückzahlung die Länder Europas bürgen. Von den 186 Milliarden Euro stehen 140 Milliarden zur Verfügung. Die übrigen 45 Milliarden Euro werden zur Tilgung des bereits gewährten G-7-Darlehens benötigt, da die bisherigen EZB-Zinszahlungen künftig ja ausfallen.
Die Ukraine wiederum muss das neue 140-Milliarden-Euro-Darlehen der EU nur tilgen, wenn sie nach Kriegsende Reparationen aus Moskau erhält. Mit dem Geld könnte die EU dann ihre Schulden bei Euroclear begleichen, zugleich dürfte die russische Zentralbank wieder auf ihre Reserven in Belgien zugreifen.
Setzt Putin seine Invasion dagegen fort oder verweigert die Zahlung von Reparationen, wovon man im Westen hinter vorgehaltener Hand ausgeht, bleiben die Sanktionen der Europäer in Kraft und die Moskauer Konten gesperrt. Die EU-Staaten müssten in diesem Fall dann irgendwann in den kommenden Jahren entscheiden, ob sie Euroclear selbst entschädigen wollen oder, was wahrscheinlicher ist, Russland am Ende doch enteignen – mit allen Risiken, die das mit sich brächte.

