Süddeutsche Zeitung

EU-Referendum in Irland:Gift für unsere Demokratie

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Volksabstimmungen schwächen das, was sie stärken wollen. Deshalb sind sie keine Lösung für die Europäische Integration, findet Johan Schloemann.

Es muss schlimm stehen um die Demokratie in den Ländern Europas und in der Europäischen Union. Anlässlich des irischen Neins zum Lissabon-Vertrag verlässt auch ein Philosoph wie Jürgen Habermas, wie am Dienstag in der SZ zu lesen war, die Sphäre des Raisonnements und haut auf den Verdrossenheitsstammtisch.

Die gescheiterten Vergemeinschaftungshoffnungen der Nachkriegszeit sollen ja eigentlich auf Europa, auf eine diffuse "europäische Öffentlichkeit" verlegt werden - doch da stehen nun die bösen "Macher" im Wege, die ein "Eliteprojekt über die Köpfe der Bevölkerung hinweg" betreiben und wegen "wirtschaftsliberaler Antriebe" einen "bürgernahen Politikmodus" vereiteln.

Auch in den einzelnen Ländern hören wir ständig, die Demokratie sei wegen mangelnder Partizipation bedroht, und schuld daran seien irgendwie die Wirtschaft, der Konsumismus, das Fernsehen, der Individualismus und natürlich "die Politiker". Da stimmen auch drei neue Bücher mit ein, von Paul Ginsborg ("Wie Demokratie leben"), Emanuel Richter ("Die Wurzeln der Demokratie") und Colin Crouch ("Postdemokratie").

Gewiss, man muss ständig daran arbeiten, "die Integrationskraft unserer Demokratie zu stärken durch mehr demokratische Transparenz und Teilhabe und durch mehr demokratische Handlungsfähigkeit und Verantwortlichkeit" - so Horst Köhler in seiner Berliner Rede. Es ist aber gerade nicht ein Zeichen demokratischer Emphase, sondern eher einer enttäuschenden Unsicherheit unseres Demokratieverständnisses, wenn als Therapie für die so empfundenen Missstände mit verlässlicher Regelmäßigkeit mehr Direktdemokratie und Volksabstimmungen empfohlen werden.

Man muss wieder einmal daran erinnern: Volksabstimmungen höhlen, so man sich denn einmal für ein repräsentatives System entschieden hat, eben dieses demokratische System aus, das damit angeblich belebt werden soll. Je mehr Volksabstimmungen über verschiedene Fragen veranstaltet werden, desto mehr muss die Mehrheit der Bürger das Gefühl entwickeln, dass alles, was nicht per Direktabstimmung beraten und beschlossen wird - also alles, was die durch Wahl legitimierten Repräsentanten und die aus ihrer Mehrheit gewählte Regierung sonst die ganze Zeit so treiben - dass all dies noch unwichtiger, noch "bürgerferner" sei, als es ihnen ohnehin schon zu sein scheint.

Gerade die Referenden in EU-Angelegenheiten zeigen das Problem. Natürlich liegen die Dinge hier kompliziert: Grundlegende Veränderungen bei nationaler Souveränität und bei Grenzziehungen werden traditionell auch in der minimalistischsten repräsentativen Verfassung dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Die Frage, ob ein Land überhaupt der EU beitreten will, fällt sicher in diese Kategorie (von denen, die gefragt wurden, haben sie alle außer Norwegen bejaht).

Weniger klar ist, wie es dann auf dem Weg der Integration weitergeht: Die EU ist ihrer Natur nach - und das wird sich nie ändern - eine Mischung kooperativ-vertraglicher und quasi-republikanischer Elemente. Aber müssen die beigetretenen Völker deshalb über jede neue Organisationsreform direkt abstimmen? Es ist genau diese Unsicherheit, die, in ungleicher Verteilung, zu einer Inflation von Volksabstimmungen geführt hat.

Und das war ein Fehler. Denn wie könnte selbst der klügste Verfassungsrechtler sinnvollerweise über ein komplexes Vertragswerk wie Maastricht oder Lissabon mit "Ja" oder "Nein" abstimmen? Wenn man einmal so anfängt, wenn man diese Entscheidungen immer wieder zu Themen von Wahlkämpfen macht, dann wird man, wie in Dänemark oder in Irland, die Geister nicht mehr los. Die Entwertung der Legitimation von Politik, die die ständigen Befragungen bedeuten, führt dann wieder in eine weitere Entwertung, wenn die Bürger nach einem "Nein" alsbald noch einmal zum selben Thema befragt werden, ob sie es sich nicht anders überlegt haben - so, wie es 1993 in Dänemark (Maastricht) und 2002 in Irland (Nizza) geschehen ist, und wie es zu gegebener Zeit in Irland (Lissabon) und in Dänemark und Schweden (Euro-Einführung) wieder geschehen wird.

Ganz zu schweigen von der Paradoxie, dass Vertragswerke mit dem Argument der "Bürgerferne" abgelehnt werden, in denen gerade ein Mehr an partizipatorischen Elementen vorgesehen ist.

Das heißt nun keineswegs, dass die europäischen Eliten alles richtig gemacht hätten. Sie haben sich beispielsweise eben wegen des "Bürgerferne"-Vorwurfs, der seinerseits durch die früheren Plebiszite befeuert wurde, dazu verleiten lassen, von einer europäischen "Verfassung" zu sprechen, was wiederum die nächsten Plebiszite provoziert hat ... Niemand hat ja behauptet, das Zusammengehen Europas würde ein einfaches Unterfangen.

Aber Plebiszite sind nicht die Lösung. Die Europäische Union bleibt hinsichtlich der demokratischen Legitimation ein Zwitter zwischen Nationalstaatlichkeit und Gemeinschaftlichkeit - und wie könnte es denn anders sein? Warum letzte legitimatorische "Klarheit" fordern, wenn die Identitäten in Europa zwischen Region, Nation und Kontinent auch nicht klar getrennt sind?

Dekadenz und Vitalisierung

Auch auf nationaler Ebene ist die Vitalisierung der - beliebten Dekadenztheorien zufolge - angeblich komplett erlahmten Demokratie durch Volksabstimmungen eine schale Hoffnung. Früher gab es, neben den aristokratischen Vorbehalten etwa der amerikanischen Verfassungsväter, ein technisches Argument gegen die Direktdemokratie: Sie sei in einem modernen Flächenstaat, anders als im antiken Athen oder auf dem Schweizer Dorfplatz, nicht durchführbar. Heute kann man bei den inhaltlichen Einwänden bleiben: Denn das technische Problem ließe sich durch häufige Online-Abstimmungen leicht lösen - und dennoch wäre es falsch, wenn auf diesem Wege die Wahlentscheidung zur Umfrage herabsänke.

Oft heißt es: Es gehe ja nicht um die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie, nur um ihre Ergänzung. Man wolle nicht permanent abstimmen, nur bei "wichtigen" Fragen. Aber es sind doch auf Bundesebene gerade die wichtigen Fragen - Rentenreform, Gesundheitsreform oder Klimapolitik -, die sich nicht vom Volk mit "Ja" oder "Nein" entscheiden lassen! Und soll den Parlamentariern nur das Unwichtige gelassen werden?

Selbst die gemäßigte Variante, Abstimmungen über Sachfragen nur auf lokaler Ebene, hat ihre Tücken: Was bei einer ungewöhnlichen politischen Monokultur wie in Bayern noch ein willkommenes Korrektiv sein kann, droht zu "Korporatismus" zu führen, weil es "zur Dominanz von Abstimmungsprojekten durch einflussreiche Interessengruppen verleitet" (Emanuel Richter): Ein Musterbeispiel dafür hat kürzlich die Abstimmung über die Erhaltung des Flughafens Tempelhof in Berlin geliefert.

Die Wohltäter des Volkes, die die Politikverdrossenheit mit ihren Klagen darüber selbst verstärken, sehen in Plebisziten die "Bürgernähe" verwirklicht. Was wäre aber, wenn sich die Bürger der Politik gar nicht weiter nähern wollten, als sie es heute tun? Dann wären wir trotzdem noch eine Demokratie.

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Quelle:
SZ vom 19.06.2008/aho
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