Als Ursula von der Leyen sich vergangene Woche vor dem Europaparlament um eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin bewarb, äußerte sie sich besorgt über den Zustand der „Rule of Law“ in Europa. Rule of Law, das bedeutet Rechtsstaatlichkeit. Sie ist ein Wesenskern der Europäischen Union: Es geht um die Unabhängigkeit der Justiz, Korruptionsbekämpfung, Medienvielfalt sowie eine funktionierende Gewaltenteilung, zu der eine freie Zivilgesellschaft gehört. Bei vielen Abgeordneten erregte von der Leyen mit ihrer Ankündigung, die bedrängte Rule of Law weiterhin als eines ihrer Hauptanliegen zu pflegen, Verwunderung und Zweifel.
Ursula von der Leyen steht erstens im Ruf, zu gnädig mit Viktor Orbán umzugehen. Das Parlament hat sogar vor dem Europäischen Gerichtshof eine Klage gegen sie auf den Weg gebracht, weil ihre Kommission zehn Fördermilliarden für Ungarn freigab. Und zweitens steht sie im Verdacht, zu eng mit der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni umzugehen. Es wurde vergangene Woche in EU-Zirkeln geargwöhnt, von der Leyen habe den Bericht über den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in den 27 EU-Staaten verschieben lassen, um Giorgia Meloni vor der Wahl in Straßburg zu schonen. Sie buhle um die Stimmen von Giorgia Melonis postfaschistischen Fratelli.
An diesem Mittwoch stellten die Kommission nun ihren mehr als tausendseitigen Bericht vor, und so viel lässt sich vorwegsagen: Darin steht nichts, was Giorgia Meloni vergangene Woche hätte sonderlich brüskieren können. Aus diesem Werk ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass Italien unter Meloni den Weg Ungarns unter Orbán einschlägt. Als Sorgenkind der Kommission erweist sich neben Ungarn vielmehr die Slowakei.
Ungarn hat „keinen Fortschritt“ gemacht, konstatiert der Bericht
Präsentiert wurde das Werk von Věra Jourová, der für „Werte und Transparenz“ zuständigen Kommissarin aus Tschechien, sowie dem Justizkommissar Didier Reynders aus Belgien. Es ist der fünfte Bericht dieser Art seit dem Jahr 2020, und er wird immer größer und umfangreicher. Diesmal bezogen die Prüfer auch die vier Beitrittskandidaten Albanien, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien ein.
Um Rechtsstaatsverstöße in den Mitgliedsländern zu ahnden, hat die EU mehrere Mittel. Das schärfste Schwert ist das Artikel-7-Verfahren, das zum Entzug des Stimmrechts führen kann. Ungarn ist mittlerweile das einzige Land, gegen das dieses Verfahren läuft. Die Kommission kann außerdem Vertragsverletzungsverfahren und Haushaltsgelder sperren. Der Rechtsstaatsbericht soll in diesem System lediglich als Vorwarnsystem dienen und enthält Empfehlungen, auf deren Basis die Kommission einen Dialog mit den Mitgliedsländern führt.
Die Kommission wertet es als Beweis für den Erfolg ihres Berichts, dass ihre „Empfehlungen“ überwiegend umgesetzt werden. Umso spektakulärer wirkt nun der Bericht zu Ungarn: „no progress“, kein Fortschritt, steht da bei allen Empfehlungen aus dem Jahr 2023. Und die Frage drängt sich auf: Wie konnte von der Leyen zehn von 30 Milliarden Euro gesperrten Fördergeldern freigeben für ein Land, in dem die Justiz gegängelt, die Medien unterdrückt, die Zivilgesellschaft erstickt wird?
Italien wird empfohlen, Journalisten besser zu schützen
Kommissar Reynders erwiderte, die ungarische Regierung habe sich zu Justizreformen verpflichtet, die der Kommission juristisch keine andere Wahl gelassen hätten, als bestimmte Fördermittel aus dem Kohäsionsfonds freizugeben. Aus dem Corona-Wiederaufbaufonds bekomme die Regierung von Viktor Orbán weiterhin kein Geld. „Ungarn bleibt für uns ein systemisches Problem in Bezug auf den Rechtsstaat“, sagte Reynders.
Zu einem systemischen Problem scheint auch die von Robert Fico regierte Slowakei zu werden. Viele Gesetze wirken auf Beobachter, als lasse Fico Gesetze von Orbán kopieren. Eine Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsfälle wurde abgeschafft, die öffentlich-rechtlichen Medien werden aufgelöst und neu gegründet, offenbar mit dem Ziel, sie unter staatliche Kontrolle zu stellen. Nichtregierungsorganisationen, die Geld aus dem Ausland erhalten, sollen per Gesetz als unpatriotisch diskreditiert werden. Kommissarin Jourová schloss deshalb nicht aus, dass gegen die Slowakei ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet wird.
Im Bericht zu Italien wird die von Meloni eingeleitete Verfassungsreform geschildert, aber nicht mit einer Empfehlung der Kommission bedacht. Die Reform hat zum Ziel, die Position des Regierungschefs zu stärken. Zwei Empfehlungen betreffen die öffentlich-rechtlichen Medien, die sich von Melonis Regierung drangsaliert fühlen. Die Regierung solle sicherstellen, dass die öffentlich-rechtlichen Medien ausreichend finanziert und unabhängig sind, heißt es. Außerdem solle sie ein Gesetz verabschieden, das Journalisten vor Verleumdung schützt und ihr Berufsgeheimnis stärkt. Ähnliche Ratschläge gibt die Kommission vielen anderen Ländern, allerdings ist es das erste Mal, dass Italien davon betroffen ist.
Der Bericht zum Rechtsstaat in Deutschland wirkt vergleichsweise milde. Die Kommission empfiehlt, den Zeitraum zu verlängern, in dem Bundesminister und parlamentarische Staatssekretäre nach dem Ausscheiden aus dem Amt nicht in die Lobbyabteilungen von Unternehmen oder Verbänden wechseln dürfen. Zudem wird angemahnt, mit einem Plan für ein Informationsrecht der Presse gegenüber Bundesbehörden voranzukommen. Und was die deutschen Richterinnen und Richter besonders freuen wird: Sie sollen nach dem Willen der EU-Kommission besser bezahlt werden.