Europäische Union:Die Tabus fallen

Europäische Union: Finanzkrieg, Waffenlieferungen und viel Solidarität: EU- und Ukraine-Flaggen vor dem Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel am Montag.

Finanzkrieg, Waffenlieferungen und viel Solidarität: EU- und Ukraine-Flaggen vor dem Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel am Montag.

(Foto: Yves Herman/Reuters)

Auch für die EU ist Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Wendepunkt: Sie handelt geschlossen, mutig und schnell. Weil plötzlich der politische Wille da ist, sich von Wladimir Putin nicht alles bieten zu lassen.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Olaf Scholz und Ursula von der Leyen gehörten gemeinsam der ersten Regierung von Angela Merkel an und, Jahre später, auch der letzten. Der Bundeskanzler und die Präsidentin der EU-Kommission kennen sich also gut, und nun spielen beide eine zentrale Rolle in der Antwort der Europäer auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, der auch in Brüssel dazu führt, dass viele Tabus fallen. Während Scholz den Begriff der Zeitenwende nutzt, um im wirtschaftsstärksten Mitgliedsland eine 180-Grad-Drehung in der Außen- und Sicherheitspolitik einzuleiten, spricht von der Leyen seit Tagen von einem "watershed moment", was ihre Behörde als "Wendepunkt für unsere Union" übersetzt.

Gemeint ist das Gleiche: Nach dem 24. Februar 2022 wird kaum etwas so sein wie vorher. So sind nicht nur viele Illusionen über die Absichten und die Verlässlichkeit Wladimir Putins zerstört. Die EU beweist gerade, dass sie anders auftreten kann, als es sowohl ihre Kritiker als auch ihre Unterstützer sonst bemängeln: Sie ist nicht zerstritten, zögerlich und langsam, sondern handelt geschlossen, mutig und schnell. Anders formuliert: Die Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen reagieren angemessen und flexibel auf die hochgefährliche Situation und halten ihr Versprechen, wonach Russland für eine Invasion einen sehr hohen Preis zahlen muss. Wie die weiteren Schritte der EU aussehen könnten, darüber berieten Scholz und von der Leyen am frühen Montagabend mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Paris.

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Zuvor sorgten die EU und ihre Partner dafür, dass Russlands Zentralbank ihre Milliarden-Reserven nicht mehr einsetzen kann, was für den Wirtschaftshistoriker Adam Tooze nichts weniger ist als ein "vollumfänglicher Finanzkrieg". Durchgezogen wird die Maßnahme an einem Wochenende, sodass der Montagmorgen mit einem Kollaps des Rubels beginnt. Plötzlich gibt es Sanktionen gegen viele der Oligarchen aus dem Umfeld von Präsident Putin, die etwa der einem Mordanschlag des Kremls entkommene Oppositionelle Alexej Nawalny seit Monaten fordert.

Auf der aktuellen Liste stehen neben Igor Setschin, dem Chef des Ölkonzerns Rosneft, auch Michail Fridman, der Gründer der Alfa Bank, und Nikolai Tokarew, der mit Putin im KGB arbeitete und heute den Energiekonzern Transneft leitet. Es ist exakt jener Schritt, den EU-Diplomaten monatelang als "juristisch unmöglich" bezeichnet hatten, weil man keine Niederlage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) riskieren wollte - der plötzlich vorhandene politische Wille macht es möglich.

Mit dem Exportverbot für Halbleiter, Mikrochips sowie Ersatzteile, von denen zahlreiche russische Industrien abhängig sind, nutzt die EU die Tatsache, dass ihre Firmen in vielen Bereichen Weltmarktführer sind, eiskalt zur Durchsetzung ihrer Interessen. Und obwohl die Debatte über Migration und den Umgang mit Geflüchteten jahrelang die Beziehungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten vergiftet hatte, sind bei der Hilfe für die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine plötzlich unbürokratische Maßnahmen und Solidarität möglich. Der erbitterte Streit, den Putin womöglich erwartet hatte, er findet nicht statt.

Die EU nutzt ihre wirtschaftliche Stärke gegen Moskau

Gewiss: Nationale Regierungen versuchten wie immer, den Schaden für ihre Schlüsselindustrien zu begrenzen, weshalb etwa Italien in den Sanktionspaketen Ausnahmen für Luxusartikel forderte, Belgien seine Diamantindustrie verteidigte und der russische Energiesektor wegen der Abhängigkeit vieler Staaten außen vor bleibt. Aber das Bewusstsein, dass alle EU-Mitglieder einen Preis zu zahlen haben, ist da, und die Opferbereitschaft wächst. Jene EU-Diplomaten, die Bescheid wissen über die Gespräche der Staats- und Regierungschefs beim Sondergipfel am Wochenende, berichten von intensiven Beratungen unter ungewohnten Bedingungen: "Auf einen Krieg in Europa reagieren zu müssen, das ist niemand von ihnen gewohnt."

Bei allem Entsetzen über die Toten und Verletzten in der Ukraine sowie die Hunderttausenden Menschen auf der Flucht: Ein gewisser Stolz über die Beschlüsse und deren Schlagkraft ist bei Insidern in Brüssel zu spüren. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell formulierte es am Montag so: "Die Einheit der Europäer ist so stark wie der Widerstand der Ukrainer." Ganz geglückt ist dieser Vergleich nicht, aber Borrell hetzt seit Tagen von morgens bis abends von Termin zu Termin.

Europäische Union: "Die Einheit der Europäer ist so stark wie der Widerstand der Ukrainer", sagte EU-Außenbeauftragter Josep Borrell am Montag in Brüssel.

"Die Einheit der Europäer ist so stark wie der Widerstand der Ukrainer", sagte EU-Außenbeauftragter Josep Borrell am Montag in Brüssel.

(Foto: Stephanie Lecocq/AP)

Viermal hatte der Spanier in der vergangenen Woche die Außenminister zusammengerufen, und am Montag ging es weiter mit einer Videokonferenz der Verteidigungsminister. In dieser ging es darum, eine Entscheidung umzusetzen, die Borrell am Sonntag treffend umschrieben hatte: "Ein weiteres Tabu ist gefallen." Erstmals stellt die EU bis zu 450 Millionen Euro zur Verfügung, um Waffen zu liefern.

Vor der Videokonferenz sagte Borrell, es gehe darum, die Aggression abzuwehren, weshalb man der ukrainischen Regierung etwa Munition und Panzerabwehrraketen liefern wolle. Am Vortag hatte er mit der Aussage für Verwirrung gesorgt, die EU könnte der Ukraine auch Kampfjets liefern. Nun machte der Außenbeauftragte klar: Einzelne Staaten könnten dies bilateral anbieten, allerdings müssten es Maschinen sein, die ukrainische Piloten fliegen könnten. Laut einem EU-Beamten können Mitgliedstaaten das Geld sowohl für Lieferungen, die 2022 bereits durchgeführt wurden, beantragen oder damit neue Hilfe für die Regierung in Kiew finanzieren.

Die EU nutzt dafür ein Sonderprogramm, das die Mitgliedstaaten erstmals für die Haushaltsperiode 2021 bis 2027 geschaffen haben: Die Europäische Friedensfazilität soll dabei helfen, die Fähigkeiten von Streitkräften in Partnerländern zu stärken. Die Ukraine hatte Ende 2021 31 Millionen Euro erhalten, um etwa Feldlazarette zu kaufen und den Cyberbereich zu verstärken. Doch über die Friedensfazilität Waffenlieferungen zu finanzieren, erschien noch Tage zuvor undenkbar - auch wegen der deutschen Fundamentalopposition. Als diese fiel, konnten Österreich, Malta und Irland, die nicht der Nato angehören und ihre Neutralität betonen, per "konstruktiver Enthaltung" den anderen EU-Staaten grünes Licht geben. Die neutralen Staaten können einen zweiten Topf in Höhe von 50 Millionen Euro nutzen, aus dem die Lieferung von Helmen oder Erste-Hilfe-Material finanziert wird.

Geht es nach dem ukrainischen Präsidenten, dann ist die Unterstützung aus Brüssel nur der Anfang. Wolodimir Selenskij unterschrieb am Montag ein Gesuch für den EU-Beitritt seines Landes. "Ich bin überzeugt, dass wir das verdient haben", sagte er. Die Staatsoberhäupter von acht östlichen EU-Mitgliedstaaten sprangen ihm umgehend bei. In einem Schreiben forderten die Präsidentinnen und Präsidenten Bulgariens, Tschechiens, Estlands, Lettlands, Litauens, Polens, der Slowakei und Sloweniens, der Ukraine eine sofortige Beitrittsperspektive zur EU zu eröffnen. Deutlich vager hatte sich zuvor Kommissionspräsidentin von der Leyen geäußert. Die Ukraine, sagte sie, gehöre "im Laufe der Zeit" zur EU.

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