Es gibt eine Briefmarke, ein offizielles Präsidentschaftsobst und ein Kinderlogo. Für die polnische Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft am 1. Januar ist alles vorbereitet. Es ist die zweite nach 2011. Das Leitthema lautet Sicherheit. Dass Polen ausgerechnet vom ewigen Störfaktor Ungarn und seinem alles blockierenden Autokraten Viktor Orbán übernimmt, wertet der polnische Ministerpräsident Donald Tusk als „Symbol des Wandels und der großen Hoffnung der ganzen EU auf eine demokratische und sichere Zukunft des Kontinents“.
Seit gut einem Jahr ist Tusk mit einer liberalkonservativen Regierungskoalition im Amt. Die rechtsnationalistische PiS-Partei hat nach acht Jahren an der Macht ein Rechtsstaatschaos hinterlassen, das die neue Regierung bei allen Bemühungen noch nicht bereinigen konnte. Zudem ist die Gesellschaft weiterhin tief in grob zwei politische Lager gespalten.
Doch dass es - anders als bislang in Ungarn - bei einer Wahl möglich war, die PiS-Partei zu besiegen, die sich mit der EU-Kommission zerstritten hatte und die Urteile des Europäischen Gerichtshofs wütend und höhnisch zurückwies, löste in vielen europäischen Hauptstädten Erleichterung aus.
Auch Tusk lehnt die Umverteilung von Flüchtlingen ab
Als Vertrauensvorschuss gab die EU-Kommission sogar lange blockierte Subventionen frei. Tusk will beweisen, dass er und seine Regierung das Vertrauen verdient haben. Nach Jahren der Isolation soll Polen auf europäischer Bühne wieder gestalten – und mitentscheiden. Dabei setzt Tusk vor allem auf Migration und Verteidigung, zwei Themen, bei denen es unter den EU-Ländern allenfalls groben Konsens gibt. Im Detail steckt viel Streitpotenzial.
So möchte Polen keine weiteren Geflüchteten aufnehmen, weil bereits knapp eine Million registrierte Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine im Land seien. Jegliche Umverteilung von Flüchtlingen aus Asien und Afrika lehnt Polen ab.
Bei der Verteidigung fordert die polnische Regierung hingegen alles, was möglich ist, denn das Land ist mit seinen langen Grenzen zu Belarus, der Ukraine und der russischen Exklave Kaliningrad stark exponiert. Polen rüstet massiv auf, will ein Heer mit 300 000 Soldaten erreichen und nächstes Jahr 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung investieren. Wenn alle Pläne umgesetzt werden, wird Polen in einigen Jahren die größte Armee Europas haben.
Laute Warnung vor Putins Imperialismus
Polen, sagte Donald Tusk beim EU-Gipfel in Brüssel vor Weihnachten, habe den Ruf, „das ehrgeizigste und vernünftigste“ Land zu sein, wenn es um die Einschätzung der Gefahren aus dem Osten gehe.
Hierin liegt wohl der größte Kontrast zu Ungarn und dessen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Nicht wenige in Brüssel haben das Ende der ungarischen Ratspräsidentschaft schon herbeigesehnt, als sie im Juli begann. Schluss mit Orbáns Selbstinszenierung: Fünf Tage nach Übernahme des Vorsitzes im Ministerrat reiste er nach Moskau, verquickte die institutionelle Rolle als EU-interner Moderator mit seiner persönlichen Agenda als Putin-naher Quertreiber. Schluss mit weitgehend ergebnislosen Ministertreffen: Verglichen mit den vorherigen Präsidentschaften Belgiens, Spaniens oder Schwedens haben die Ungarn seit dem Sommer wenige Gesetzesvorhaben vorangebracht oder abgeschlossen.
Zu Beginn des vierten Ukraine-Kriegsjahres übernimmt nun jenes der fünf großen EU-Länder den Vorsitz, das mit am lautesten vor Putins Imperialismus warnt. Wobei es den Polen bei ihrem Leitthema Sicherheit auch um wirtschaftliche Sicherheit geht: den Umgang mit eindimensionalen Abhängigkeiten etwa von China, die Reaktion auf Donald Trumps Zollfantasien oder die interne Versorgungssicherheit etwa mit Medikamenten.
Warschau dringt auf gemeinsame Rüstungsfinanzierung
Für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gehört Tusk zu den engeren Vertrauten. Er hatte ihre Ambitionen für eine zweite Amtszeit frühzeitig unterstützt. Die Liste offener Vorhaben ist lang. Polens Regierung möchte endlich vorankommen mit der Pharma-Verordnung, die ein zwei Jahrzehnte altes EU-Rahmenwerk für den Medizinbereich reformieren soll. Die Kommission hatte im April 2023 vier Gesetze vorgeschlagen, um die Entwicklung neuer Antibiotika zu fördern, die Zulassung neuer Arzneimittel zu beschleunigen und sicherzustellen, dass neue Medikamente möglichst gleichzeitig in allen Mitgliedstaaten verfügbar sind.
Warschau dringt auch darauf, bei der gemeinsamen Rüstungsfinanzierung voranzukommen. Im Frühjahr hatte die Kommission einen Plan vorgestellt, wonach bis Ende des Jahrzehnts 40 Prozent der Rüstungsgüter gemeinschaftlich finanziert werden und mehr als ein Drittel der Verteidigungsausgaben an Unternehmen in der EU fließen sollten. Im Frühjahr will die Kommission, nunmehr mit eigenem Verteidigungskommissar, Ideen zur „Zukunft der europäischen Verteidigung“ präsentieren. Die Frage, wie die EU-Staaten mehr gemeinsam aufrüsten können, und wie die EU das parallel zur Nato organisieren soll, gehört zu den schwierigeren für das neue Jahr.
Außerdem stehen Gespräche über die 16. Runde an Sanktionen gegen Russland bevor. Es gilt als unwahrscheinlich, dass die Maßnahmen nochmals deutlich verschärft werden. Sanktionen beschließen die EU-Staaten stets einstimmig, und über Listungen weiterer Personen, Schiffe und Unternehmen hinaus scheint die Einigkeit ausgereizt zu sein.
Besonderes Interesse hat Polen auch am Umgang mit Importen von Agrarprodukten aus der Ukraine. Weil die Ukraine durch den russischen Angriffskrieg ihre Häfen nicht mehr nutzen konnte, hatte die EU erlaubt, dass ukrainisches Getreide zollfrei über EU-Länder ausgeführt werden darf. Allerdings wurde einiges davon auch in EU-Ländern verkauft, und polnische Bauern protestierten heftig gegen den Preisverfall ihrer Produkte. Polens Regierung wird nun versuchen, eine Handelsvereinbarung von 2016 an die Lage anzupassen. Ansonsten müsste der Rat die im Sommer endenden Ausnahmeregelungen verlängern.
Ob Tusk so stark ist, wie es seine Worte und Ansprüche andeuten, wird sich ausgerechnet während der Ratspräsidentschaft weisen. Noch wird Tusks Regierung von Präsident Andrzej Duda blockiert, der sich weigert, Gesetze zu unterzeichnen. Duda war 2015 als Kandidat der PiS-Partei angetreten. Nach zwei Amtszeiten kann er nicht erneut kandidieren. Im Mai wird ein neuer Präsident gewählt – und wenn Tusk nicht nur Europa, sondern vor allem sein eigenes Land gestalten und voranbringen möchte, dann muss sein Kandidat Rafał Trzaskowski die Wahl gewinnen.
Einfach und eindeutig war offenbar die Wahl der „offiziellen Frucht der EU-Ratspräsidentschaft“. Es ist der Apfel. Polen erntet die meisten Äpfel Europas, der Apfel sei daher ein Grund, stolz zu sein, heißt es auf der Webseite der Ratspräsidentschaft. Ehrgeiz der polnischen Regierung ist es offensichtlich, den Polen weitere Gründe zu geben, stolz zu sein.