Süddeutsche Zeitung

EU-Ratspräsidentschaft:Polen könnte im Streit um Tusk zum Mittel der Erpressung greifen

Rechtlich hat die rechtskonservative Regierung keine Handhabe, die Wiederwahl des verhassten Landsmanns zum EU-Ratspräsidenten zu verhindern - jetzt zielt Polen auf eine Eskalation.

Von Daniel Brössler, Brüssel

Der EU-Gipfel hat noch nicht angefangen, da droht er schon im Chaos zu enden. Der ganze Gipfel werde "gefährdet" sein, wenn die Abstimmung über die Wiederwahl von Donald Tusk als EU-Ratspräsident wie geplant vonstattengehe, ließ Polens Außenminister Witold Waszczykowski vorab per Fernsehinterview wissen. Das Signal ist eindeutig: Polens national-konservative Regierung ist bereit, den Streit über den ihr verhassten liberalen Landsmann Tusk auf die Spitze zu treiben. Für die EU sind das verheerende Aussichten.

Nach den Buchstaben des EU-Vertrages hat die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydło wenig in der Hand. Der Ratspräsident wird mit qualifizierter Mehrheit gewählt. Eine Zustimmung des Herkunftslandes ist nicht erforderlich. Und um seine Mehrheit muss sich Tusk eigentlich keine Sorgen machen. Außer den Polen hat sich niemand gegen ihn ausgesprochen. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach sich am Donnerstag im Bundestag ganz klar für eine zweite Amtszeit des Polen aus. "Ich sehe seine Wiederwahl als Zeichen der Stabilität für die gesamte Europäische Union an", sagte sie. Sie freue sich darauf, "die Zusammenarbeit mit ihm fortzusetzen".

Was könnte Szydło also tun? Zunächst möchte sie die Abstimmung verhindern. Man habe der deutschen Seite signalisiert, dass "keine Notwendigkeit besteht, heute abzustimmen", sagte Waszczykowski dem Fernsehsender TVN. Und: "Wir werden alles tun, damit es heute nicht zu einer Abstimmung kommt." Rechtlich können die Polen den maltesischen Premierminister Joseph Muscat, der das Prozedere leitet, zwar nicht daran hindern, die Angelegenheit zu Ende zu bringen. Wohl aber könnten sie zum Mittel der Erpressung greifen. Szydło könnte damit drohen, keinerlei inhaltliche Beschlüsse des Gipfels mitzutragen. Diese bedürfen nämlich der Einstimmigkeit.

"Das Thema steht auf der Agenda, deshalb muss man entscheiden", zeigte sich Muscat aber unbeirrt. "Es gibt klare Regeln, die ich befolgen werde. Die Entscheidung wird heute getroffen werden", kündigte er an.

Szydło könnte womöglich sogar noch weiter gehen und damit drohen, den Gipfel zu verlassen. Vielleicht denkt sie an eine Politik des leeren Stuhls, wie sie Frankreich 1965 unter Charles de Gaulle im Streit über die Agrarpolitik betrieben hatte. Sollte sie so weit gehen, dann wäre das gewiss nicht ihre Entscheidung, sondern die ihres Parteichefs Jarosław Kaczyński, der in Warschau alle Fäden in der Hand hält. Kaczyńskis tiefe Abneigung gegen Ex-Ministerpräsident Tusk prägt in Polen schon lange die Politik. Der Nationalkonservative glaubt , dass sein Zwillingsbruder Lech als Staatspräsident 2010 Opfer einer Verschwörung geworden ist. Damals stürzte die Präsidentenmaschine im russischen Smolensk ab, nachdem der Pilot trotz extrem schlechten Wetters hatte landen wollen.

Offiziell wirft die polnische Regierung Tusk eine unzulässige Unterstützung der Opposition in Polen vor. In einem schrillen Brief warnte Szydło ihre Kollegen vor der Wahl Tusks. Dieser sei an einem Versuch beteiligt gewesen, "die Regierung mit nichtparlamentarischen Mitteln zu stürzen". Es sieht nicht so aus, als sei sie zum Einlenken bereit.

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