Als António Costa am 1. Dezember 2024 sein Amt als EU-Ratspräsident antrat, war die Welt noch halbwegs in Ordnung. In den USA hatte zwar ein paar Wochen zuvor Europas Nemesis Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewonnen. Aber noch regierte in Washington der treue Transatlantiker Joe Biden. Am Donnerstag, als Costa sich in Brüssel mit einer Gruppe von Journalisten europäischer Medien zusammensetzte – darunter die Süddeutsche Zeitung –, war die Lage eine völlig andere. Trump regiert inzwischen – und er regiert mit einem Wust an chaotischen Drohungen und Ankündigungen, die Europa Angst machen.
Der frühere portugiesische Premier Costa wurde auch deswegen zum EU-Ratspräsidenten ernannt, weil er – wohl zu Recht – den Ruf genießt, ein stets freundlicher, ausgleichender Mensch zu sein, der Streitigkeiten schlichten und Kompromisse befördern kann. Im Verhältnis zwischen Trump und der EU wird diese Kunst in den kommenden Monaten gefragt sein. Insofern wäre es fahrlässig von Costa gewesen, Trumps bisherige Außenpolitik offen oder gar harsch zu kritisieren. Weder mit Blick auf die drohenden US-Zölle gegen Europa noch auf Trumps Pläne, Amerika Grönland einzuverleiben, oder auch auf die Idee, den Gazastreifen zu einer Art amerikanischem Protektorat zu machen und die Palästinenser auszusiedeln, ließ sich Costa zu einer provokativen Antwort hinreißen.
„Wir wollen Verbündete, Partner und sehr gute Freunde der Vereinigten Staaten bleiben.“
Doch es war bestimmt kein Zufall, dass Costa in dem Gespräch gleich zweimal betonte, die EU bleibe ein „berechenbarer und verlässlicher Partner“ in der Welt. Europa halte sich an UN-Prinzipien wie die Souveränität von Staaten und die Unverletzlichkeit von Grenzen – ob das nun für die Ukraine, Kongo oder das zum EU-Mitglied Dänemark gehörende Grönland gelte. Europa sei auch bereit, etwaige Probleme in den Handelsbeziehungen mit den USA zu diskutieren und durch Verhandlungen auszuräumen, versicherte Costa. Für Amerika unter Trump, so könnte man folgern, gilt all das offensichtlich nicht mehr.
Auch was den Charakter der künftigen europäisch-amerikanischen Beziehungen angeht, beschrieb Costa nur jenen Teil, der von Brüssel aus beeinflussbar ist. „Wir sind seit langer Zeit Verbündete, Partner und Freunde der Vereinigten Staaten“, sagte er. „Und wir wollen Verbündete, Partner und sehr gute Freunde der Vereinigten Staaten bleiben.“ Dass Trump das grundsätzlich anders sehen könnte, weiß Costa natürlich. Doch, so seine Botschaft, wenn das transatlantische Bündnis zerbricht, dann wegen Trump, nicht wegen der Europäer.
Deutlich klarer ließ Costa seine Kolleginnen und Kollegen in den EU-Hauptstädten wissen, was auf sie zukommt: Die Europäer müssten sehr viel mehr Geld für ihre eigene Verteidigung ausgeben, mahnte er. Wie viel, was die „magische Zahl“ in Prozent der Wirtschaftsleistung sein werde, darüber stimme die EU sich gerade mit der Nato ab. Europa müsse aber alle denkbaren Wege ausloten, um mehr Geld für Investitionen in seine Armeen und die Rüstungsindustrie freizubekommen. „Im Moment können wir keine Lösung ausschließen“, sagte Costa.
Dieser Satz zielte vor allem auf die Regierung in Berlin, die genau das Gegenteil tut – sie schließt eine bestimmte Lösung aus: Bundeskanzler Olaf Scholz weigert sich seit Monaten, der Aufnahme gemeinsamer EU-Schulden zuzustimmen, damit dieses Geld dann für die Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit ausgegeben werden kann. Aus deutscher Sicht ist diese Verweigerung nachvollziehbar. Wenn die EU gemeinsame Schulden aufnimmt – etwa in Form sogenannter Defense Bonds –, muss Deutschland als wirtschaftlich stärkster Mitgliedsstaat den größten Teil der Zinsen bezahlen und des Risikos tragen. Zudem gibt es in Berlin verfassungsrechtliche Bedenken. Ob sich die benötigten Milliarden – eine Brüsseler Schätzung sieht einen Finanzierungsbedarf von 500 Milliarden Euro für zehn Jahre – allerdings auf anderem Wege tatsächlich auftreiben lassen, ist unklar.
Auch die nächste Bundesregierung wird sich mit dem unangenehmen Thema befassen müssen
Derzeit beschäftigt sich Brüssel vornehmlich mit der Idee von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Haushaltsregeln für die EU-Länder aufzuweichen. Eigentlich müssen die Staaten ihr jährliches Haushaltsdefizit unter drei Prozent der Wirtschaftsleistung halten, die Schuldenquote darf zudem nicht höher als 60 Prozent liegen. Von der Leyen hat eine „Flexibilisierung“ ins Spiel gebracht – eine Idee, die auch Costa unterstützte. Demnach könnten Verteidigungsinvestitionen von den Budgetregeln ausgenommen werden, sie würden also nicht oder zumindest nicht voll auf das Defizit und den Schuldenstand angerechnet werden. Die EU-Kommission kann ein solches Verfahren mit einer Notlage begründen, ohne die Schuldenregeln förmlich ändern zu müssen. Das wäre ein Weg, um den „finanziellen Spielraum der Mitgliedsländer zu vergrößern“, so Costa. Aber reicht es?
Das Beharren des EU-Ratspräsidenten darauf, dass die Idee gemeinsamer Schulden nicht vom Tisch sei, zeigt, dass auch die nächste Bundesregierung sich mit diesem unangenehmen Thema wird befassen müssen – ob nun unter einem Weiterhin-Kanzler Scholz oder einem Neu-Kanzler Friedrich Merz. Dass Scholz vorige Woche bei einem EU-Gipfeltreffen wieder ausdrücklich Nein zu den Schulden-Plänen gesagt hat, sieht Costa offenbar nicht als Endpunkt der Debatte, sondern eher als Zwischenstand. Bei dem Treffen sei es „nicht darum gegangen, rote Linien zu ziehen“, sagt er.
Nach Angaben von EU-Diplomaten haben bereits etliche andere Mitgliedsländer, die zur Gruppe der sogenannten Sparsamen gehören und gemeinsame EU-Schulden grundsätzlich ablehnen, ihre Haltung geändert – etwa Finnland. Sie halten die Bedrohung durch Russland und die Gefahren einer Trump-Präsidentschaft für Europa für so groß, dass sie bei der Verteidigung Ausnahmen machen wollen. Offenbar spekuliert Costa auf einen ähnlichen Gesinnungswandel in Berlin. Am Ende, so der Ratspräsident, werde die Lösung aus einer „Mischung aus nationalen und europäischen“ Maßnahmen bestehen, um höhere Verteidigungsausgaben zu ermöglichen.