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EU-Flüchtlingspolitik:Das haben die Gipfelteilnehmer wirklich beschlossen

Die Staats- und Regierungschefs planen, Europa stärker abzuschotten. Aber wie konkret sind die Pläne, was ist mit "Aufnahmezentren" gemeint und warum ist der Türkei-Deal ein Vorbild? Die wichtigsten Aspekte im Überblick.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Seit Beginn der Flüchtlingskrise steht für die Europäische Union ein Ziel im Vordergrund: das Geschehen (wieder) kontrollieren zu können. Ob berechtigt oder nicht - wenig hat die Bürger, und deshalb die Politiker, so beunruhigt wie das Gefühl, dass auf europäischem Boden etwas passiert, das weder gelenkt noch gar begrenzt werden kann. Vor diesem Hintergrund muss das jüngste Gipfelergebnis gesehen werden: Der "unkontrollierte Zustrom" des Jahres 2015 solle sich nicht wiederholen, heißt es in den Schlussfolgerungen, die "illegale Migration" auf allen Routen solle bekämpft werden.

Zwei Ansätze stehen im Vordergrund: Die Staats- und Regierungschefs versuchen erstens, Europa stärker abzuschotten und die Migranten gar nicht erst den Boden der EU betreten zu lassen. Wer doch durchkommt, oder es schon geschafft hat, soll, zweitens, in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Der Außengrenzstaat Italien wiederum erhält die Zusicherung, dass die EU das Migrationsthema nur gemeinsam lösen könne.

Aufnahme in der EU

Die EU probiert es mit einem "neuen Ansatz": Auf Drängen vor allem Frankreichs und Spaniens sollen die Migranten in "kontrollierten Zentren" auf dem Boden der EU untergebracht werden. Dort würden die Asylbewerber registriert, überprüft und so lange festgehalten, bis über ihre Schutzbedürftigkeit entschieden wäre. Theoretisch könnte so das Untertauchen von Migranten verhindert werden.

Die Idee entspricht dem Konzept der "Hotspots", die 2015 geplant, aber nie umgesetzt wurden, weil sich die Außengrenzstaaten gegen solche Zentren sperrten. Der Text lässt denn auch zentrale Fragen offen: Wo sollen die neuen Zentren entstehen? Nicht in Frankreich jedenfalls, stellt Präsident Emmanuel Macron klar. Es sei "an den Erstankunftsländern zu sagen, ob sie Kandidaten für die Eröffnung solcher Zentren sind, falls sie das wollen", sagt er. Frankreich sei kein Erstankunftsland. Auch Belgien und Österreich winken ab.

Diese Lesart aber akzeptiert Italien nicht.

Zweitens: Was geschieht sowohl mit jenen, die für schutzbedürftig erklärt werden, als auch mit jenen, die nach Hause geschickt werden sollen? Hier ist vage von einer Verteilung die Rede, die aber ebenfalls freiwillig bleiben soll.

Solidarität mit Italien

Sein Land sei nicht mehr allein, jubelt Premier Giuseppe Conte nach dem Gipfeltreffen. Er verweist auf den Satz, wonach die EU als Ganze die "Herausforderung Migration" bewältigen müsse, nicht ein einzelner Staat. Conte sieht damit das Prinzip verankert, wonach ein Migrant in Europa landet, wenn er in Italien landet. Dass Rom daraus einen greifbaren Vorteil ziehen kann, ist unwahrscheinlich, denn verpflichtende Zusagen zur Abnahme von Flüchtlingen wird es nicht geben. Dafür haben die Visegrád-Staaten gesorgt, zu denen Ungarn und Polen gehören. Ungelöst bleibt damit auch die Reform des "Dublin-Verfahrens" für Asylsuchende. Verpflichtende Aufnahmequoten für einzelne Länder sind vermutlich endgültig vom Tisch.

Sekundärmigration

Im Streit mit der CSU erhält Angela Merkel ein paar dürre Zeilen Text: Die Sekundärmigration, also das Weiterreisen von Asylbewerbern innerhalb der EU, wird als "Gefährdung für das europäische Asylsystem" bezeichnet. Die Mitgliedstaaten "sollten alle nötigen internen legislativen und administrativen Maßnahmen ergreifen, um solche Bewegungen zu verhindern und dabei eng zusammenarbeiten". Merkel braucht nun bilaterale Abkommen mit anderen Staaten. Sie sollen zusagen, bei ihnen schon registrierte Flüchtlinge zurückzunehmen, falls diese nach Deutschland weiterreisen. Griechenland und Spanien sind bereit dazu, Italien noch nicht. Es sei derzeit zu sehr mit der "Primärmigration" beschäftigt, sagt Merkel. Für die Rückführung in direkte Nachbarstaaten schlägt die Kanzlerin Verwaltungsvereinbarungen und eine Änderung des deutschen Asylgesetzes vor. Hier müsse ein beschleunigtes Verfahren greifen, analog zur Regelung bei sicheren Herkunftsstaaten. Eine Reihe von Ländern sei bereit für diesen Schritt.

Aufnahmezentren in Afrika

Die EU will Ernst machen mit der schon vom früheren Bundesinnenminister Otto Schily verbreiteten Idee, Migranten gar nicht erst nach Europa reisen zu lassen, sondern über deren Schutzbedürftigkeit außerhalb der EU zu entscheiden. Das wäre ein großer Wandel - wenn es gelänge. Konkret soll der Vorschlag "geprüft" werden, Auffanglager für Migranten in Drittstaaten zu errichten. Infrage kommen vor allem nordafrikanische Länder wie Libyen, Ägypten, Tunesien, Algerien oder Marokko.

In die "regionalen Anlandungszentren" sollen jene gebracht werden, die auf dem Meer gerettet wurden, in Zusammenarbeit mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Das UNHCR würde die Schutzbedürftigen auswählen, "unter Wahrung internationalen Rechts", woraufhin sie in europäische Staaten gebracht würden, die sie freiwillig aufnähmen. Die IOM soll sich um die Rückführung der Abgewiesenen in ihre Herkunftsländer kümmern. All dies soll nicht zuletzt abschreckend wirken auf potenzielle Migranten.

Keiner der genannten afrikanischen Staaten möchte allerdings solche Zentren auf seinem Boden haben. Was kann die EU ihnen bieten? Die von EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani genannten sechs Milliarden Euro reichen sicher nicht. Kritiker verweisen auch auf die menschenunwürdigen Zustände in libyschen Lagern und warnen vor Verstößen gegen das Völkerrecht. Diplomaten beteuern, es werde sich keinesfalls um "Lager" handeln. Auch EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos versichert, man plane kein neues "Guantanamo". UNHCR und IOM äußerten sich insgesamt positiv zu den neuen EU-Plänen. Man werde mitmachen, versichern sie in einer ersten Reaktion, nennen aber Bedingungen: Dazu zählen eine humane Behandlung der Migranten, diverse prozedurale Garantien und vieles mehr. Die Liste ist zu lang, als dass die Europäer sie umsetzen könnten.

Türkei-Deal als Vorbild

Ziel der EU ist es, weitere Abkommen mit Herkunfts- und Transitstaaten nach dem Vorbild des Deals mit der Türkei zu schließen. Die EU will diesen Ländern etwas bieten, damit sie sich bereit erklären, die Migranten zurückzunehmen oder von der Migration abzuhalten. Am Geld soll es jedenfalls nicht mangeln. Im nächsten mehrjährigen EU-Haushalt soll es einen speziellen Posten für derartige Abmachungen geben. Die zweite Hälfte der sechs Milliarden Euro, die der Türkei versprochen wurden, wird nun auch fließen; und der Hilfsfonds für Afrika erhält zusätzliche 500 Millionen Euro.

Grenzschutz

Die "unterstützende Rolle" der Grenzschutzbehörde Frontex soll "weiter gestärkt werden". Dies gilt neben der Grenzsicherung auch für die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber, die Frontex künftig mit eigenen Flugzeugen übernehmen soll. Im Gespräch ist, die Zahl der Beamten schon 2020 von 1500 auf 10 000 aufzustocken. Kritiker monieren, dass die EU eher mehr kompetente Asylsachbearbeiter brauche, die den Grenzstaaten bei der Bearbeitung der Anträge helfen.

Viele Gipfelergebnisse sind noch vage, einiges wird Wunschtraum bleiben. Klar ist nur: Europa zieht die Tür fester zu. Und will Milliarden ausgeben, um das Migrationsproblem in den Griff zu bekommen. Menschenrechtsorganisationen zeigen sich entsetzt über die Einigung von Brüssel. Pro Asyl spricht vom "Gipfel der Inhumanität". Es sei unmenschlich, Gefolterte und Verfolgte einfach in Europa "wegzusperren".

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Quelle:
SZ vom 30.06.2018/jsa
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