Süddeutsche Zeitung

Polen:Die Angst vor der Blockade

Wenn Polen die Prinzipien der EU weiter missachtet - welche Möglichkeiten zur Gegenwehr hat Brüssel überhaupt noch? Ein Überblick über die Rechtslage.

Von Thomas Kirchner

Der Fall Polen kostet die EU viel Kraft. Warum tut sie sich das an? Der Union kann es eben nicht egal sein, wenn bei einem Mitglied der Rechtsstaat nicht mehr so funktioniert, wie sich das fast alle anderen vorstellen. Da geht es nicht nur um hehre Prinzipien, sondern um Handfestes. Die Justiz in der EU ist zwar überwiegend in nationaler Hand, zum Teil aber auch integriert. Sind Richter in einem Land nicht mehr unabhängig, kann man sich also nicht mehr auf sie verlassen, dann funktionieren Instrumente wie der europäische Haftbefehl nicht mehr. Und der Binnenmarkt gerät in Gefahr, der darauf angewiesen ist, dass Urteile in einem Mitgliedstaat auch anderswo anerkannt werden.

Der EU stehen diverse Instrumente zur Verfügung, um mit rechtsstaatlichen Defiziten bei einem Mitglied umzugehen. Manche sind rein präventiver Natur: das Justizbarometer, Empfehlungen im Rahmen des "Europäischen Semesters" oder der jährliche Rechtsstaatsbericht über alle Staaten, der auch den Vorwurf entkräften soll, man habe in Brüssel immer dieselben im Visier.

Will die EU tatsächlich eine Veränderung bewirken, leitet sie, als Hüterin der Verträge, üblicherweise Vertragsverletzungsverfahren ein. Sie greifen, wenn EU-Recht nicht korrekt umgesetzt oder verletzt wird. Gegen Polen laufen mehrere solcher Verfahren, die sich auf verschiedene Aspekte der Justizreformen beziehen. Die mehrstufige Prozedur reicht von einem ersten "Aufforderungsschreiben" der EU-Kommission bis hin zu finanziellen Sanktionen, falls der Mitgliedstaat nicht einlenkt. Darüber entscheidet der Europäische Gerichtshof (EuGH), es ist also ein eher unpolitisches Verfahren.

Ungarn und Polen helfen sich gegenseitig mit ihrem Veto

Das zumindest theoretisch wirksamste Mittel, um Staaten, die in die Illiberalität abgleiten, auf Kurs zu bringen, ist jedoch das viel politischere Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge. Denn an dessen Ende kann der Verlust von Stimmrechten im Rat der Mitgliedstaaten oder im Europäischen Rat stehen - eine Art indirekter Rauswurf (den es offiziell nicht gibt). Gegen Polen und Ungarn laufen solche Verfahren seit Jahren. Sie werden auf Antrag der Kommission, des EU-Parlaments oder eines Drittels der Staaten gestartet, wenn eine ernsthafte Verletzung der Grundwerte der EU, zu denen die Rechtsstaatlichkeit zählt, droht.

Das Problem dabei: Am Ende entscheiden die Staaten. Für eine erste Stufe, bei der die "eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" der EU-Werte festgestellt wird, reicht eine Vier-Fünftel-Mehrheit. Um aber den Sanktionsmechanismus zu starten, braucht es Einstimmigkeit bei den Staats- und Regierungschefs. Weil Polen und Ungarn sich gegenseitig ein Veto versprechen, sind die Verfahren blockiert.

Der naheliegende Ausweg war, die Staaten dann eben dort zu packen, wo es besonders wehtut: beim Geld. Anfang 2017 schlug die Kommission vor, den nächsten EU-Haushalt, den Finanzrahmen für die Jahre 2021-27, mit einer "Konditionalität" zu versehen. Geld aus EU-Töpfen sollte künftig von rechtsstaatlichem Wohlverhalten abhängen. Ein erster Plan sah eine machtvolle Regelung vor: Ein Antrag der Kommission, Mittel zu streichen, hätte nur durch eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten verhindert werden können.

Die Bedenkenträger haben sich durchgesetzt

Nach jahrelangem Hin und Her setzten sich 2020 jene Bedenkenträger unter Führung von Kanzlerin Angela Merkel durch, die eine Totalblockade der EU fürchteten, zumal zusätzlich zum normalen EU-Budget auch noch der mehr als 700 Milliarden Euro umfassende Corona-Wiederaufbaufonds auf dem Spiel stand. Zur Abstimmung kam letztlich ein mehrfach verwässerter Entwurf. Zum einen wurde das Verfahren umgedreht: Nun sollten Sanktionen von einer qualifizierten Staatenmehrheit gebilligt werden. Zum anderen sollten nur noch Verstöße ins Visier geraten, die sich "in ausreichend direkter Art und Weise" auf die finanziellen Interessen der EU auswirken. Aus dem Rechtsstaats- wurde eine Art Antikorruptionsmechanismus.

Weil Polen und Ungarn ihr Blatt dennoch voll ausreizten und das Haushaltspaket zu blockieren drohten, brachte beim Gipfel im Dezember 2020 nur eine den Schlussfolgerungen beigefügte "interpretative Erklärung" den Durchbruch. Demnach sollte die Verordnung mit der Konditionalitätsregel zwar von Januar an gelten, aber erst angewandt werden, wenn der EuGH über eine polnisch-ungarische Klage befunden hat. Die beiden Staaten argumentieren darin, durchaus nachvollziehbar, dass es doch schon einen Rechtsstaatsmechanismus gebe: das Artikel-7-Verfahren. Vermutlich entscheidet der EuGH noch vor Jahresende. Die Kommission fügte sich in das Vorgehen, zum Unwillen des Parlaments.

Der Politikberater Gerald Knaus hält den neuen Mechanismus für letztlich zahnlos. Viel besser sei es, sich auf die Vertragsverletzungsverfahren zu konzentrieren, sagte er. Sie erlaubten es, Geldbußen zu verhängen, die so hoch wären, dass sie Polen tatsächlich wehtäten.

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