Unabhängige Justiz:Wird der Rechtsstaat zerstört, bricht alles zusammen

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In Warschau protestiert eine Frau gegen die geplante Justizreform. (Foto: REUTERS)

Der Rechtsstaat muss sich früh und energisch verteidigen, um seinen Feinden zu widerstehen, das lehrt die Geschichte. Der Rechtsverfall in Polen liegt im Trend - und zwar weltweit.

Kommentar von Stefan Ulrich

Manchmal kann es selbst in Demokratien eine Heldentat sein, sich an Recht und Gesetz zu halten. Das tut die Polin Małgorzata Gersdorf seit Jahren, was ihr den Hass vieler Anhänger der regierenden autoritären PiS-Partei einbringt. Gerade erreicht der epische Kampf zwischen der Präsidentin des Obersten Gerichtes Polens und der PiS eine neue Stufe. Gersdorf und Kollegen urteilten, zahlreiche unter Kontrolle der Politik ernannte Richter seien nicht unabhängig und dürften daher nicht Recht sprechen. Die Regierung brachte daraufhin das von ihr kontrollierte Verfassungsgericht gegen das noch unabhängige Oberste Gericht in Stellung. Und das von der PiS dominierte Abgeordnetenhaus beschloss ein Gesetz, das Richtern Gefängnis androht, wenn sie die Legalität anderer Richter bezweifeln.

Dabei haben Gersdorf und Kollegen nur ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs befolgt, wonach europäisches Recht im Fall eines Widerspruchs polnischem Recht vorgeht. Und EU-Recht verlangt unabhängige Richter. Diese Selbstverständlichkeit ist in Polen, einem der wichtigsten Länder der Union, keine mehr. Dabei versteht sich die EU als Rechtsgemeinschaft. Zu ihren Grundwerten gehört die Rechtsstaatlichkeit.

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Von Florian Hassel

Der Rechtsverfall in Polen liegt im globalen Trend. An vielen Orten sind nicht nur Freiheit und Demokratie unter Druck, sondern auch das Recht ist es. Das gilt gleich für drei Kreise: für Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht.

Beim Völkerrecht ist das offensichtlich und für betroffene Länder und Menschen besonders schlimm. Seinem Anspruch nach soll es dem Umgang der Staaten miteinander Regeln setzen, Konflikte entschärfen, Kriege verhindern und so die Menschen schützen. Doch das Völkerrecht hat eine zentrale Schwäche. Es fehlt meist ein Vollstrecker, um es durchzusetzen. Der UN-Sicherheitsrat fällt wegen der Feindschaft seiner ständigen Mitglieder meist aus. Und internationale Gerichte können urteilen, wie gerade zum Schutz der Rohingya in Myanmar, ihre Entscheidungen aber kaum vollziehen.

Diese Diagnose bedeutet nicht, dass der Patient Recht im Sterben liegt

Recht leitet jedoch nur dann Verhalten, wenn es akzeptiert oder wenigstens gefürchtet wird. Dies ist beim Völkerrecht zu selten der Fall. Die Folge: Es erodiert. Beim Eingreifen in die Jugoslawien-Kriege 1999 bemühten sich die Nato-Staaten noch, ihre Militärschläge als "humanitäre Intervention" zu legitimieren. Sie wollten dem Völkerrecht gerecht werden, was misslang. Der Angriffskrieg der USA unter George W. Bush auf den Irak 2003 beruhte bereits auf Lügen über Massenvernichtungswaffen. Russland brach durch die Annexion der Krim 2014 und die Angriffe auf die Ostukraine offen das Gewaltverbot. Wladimir Putins Lügen, etwa über die grünen Männchen, die in Wahrheit russische Soldaten waren, sollten gar nicht mehr geglaubt werden, sondern Rechtsverachtung demonstrieren.

Seither gibt es kein Halten mehr: In Syrien intervenieren und massakrieren etliche Staaten, wie es ihren Regierungen gefällt. China breitet sich aggressiv im Südchinesischen Meer aus und verängstigt die Nachbarn. Und Donald Trump, der US-Präsident? Er drohte Iran damit, für die Kultur des Landes bedeutende Stätten zu zerstören. Donald, der Barbar.

Die EU sieht sich gern als behütende Insel in aufgewühlter Welt. Oft stimmt das. Der Frieden hält seit bald einem Menschenleben, der Binnenmarkt bringt Wohlstand, Europarecht und nationales Recht kommen in der Regel miteinander aus. Doch auch hier ist Polen kein Einzelfall. Da wäre Ungarn, dessen autoritärer Premier Viktor Orbán versucht, Kultur, Wissenschaft und Medien unter Kontrolle zu bringen und den Rechtsstaat zu demontieren. Oder Spanien, wo Richter Europarecht beugen beim Vorgehen gegen katalanische Separatisten, die zugleich gewählte Europaabgeordnete sind.

Auch in den nationalen Rechtsordnungen gibt es, neben Fortschritten, Rückschläge. So war die Türkei einmal ein Beispiel für den Siegeszug von Demokratie und Rechtsstaat. Heute entwickelt sie sich zurück Richtung Diktatur. Und Deutschland? Ist ein stabiler, oft vorbildlicher Rechtsstaat. Doch selbst er steht unter Druck. Menschen werden, aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder ihres Geschlechts auf offener Straße attackiert, etwa weil sie eine Kippa tragen. Politiker werden bedroht und angegriffen. Aus dem Internet schäumt ein Hass, der die Gesellschaft vergiftet. Die Geschichte aber lehrt, dass sich der Rechtsstaat früh und energisch verteidigen muss, wenn er seinen Feinden widerstehen will. Nicht immer geschieht das derzeit. Wenn drei Berufsrichter 2019 entscheiden, eine Politikerin dürfe als "Drecksfotze" und "Stück Scheiße" geschmäht werden, läuft etwas gefährlich falsch.

Diese Diagnose bedeutet nicht, dass der Patient Recht im Sterben liegt. Er lässt sich auf allen Ebenen stärken. Beim Völkerrecht, das vom Verhalten der Staaten geprägt wird, indem Regierungen auch verbündete Länder offen kritisieren und Unterstützung verweigern, wenn diese das Recht beugen. Im Europarecht, indem die EU Vorschläge aufgreift, wie die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsländern garantiert und notfalls mit harten finanziellen Sanktionen durchgesetzt werden kann. Im nationalen Recht, indem nicht nur der Gesetzgeber auf Hass im Netz reagiert, sondern auch Richter bei der Strafzumessung beachten, dass es zu ihren Aufgaben gehört, elementare Werte der Gesellschaft zu schützen.

Recht ist nicht alles im Zusammenleben von Menschen und Staaten. Aber da, wo das Recht nicht mehr gilt, sind bald auch Freiheit, Würde und Leben nichts mehr wert. Die Gesellschaft braucht das Recht wie der Körper das Knochengerüst. Wird es zerstört, bricht alles zusammen. Die Richterin Gersdorf übertreibt nicht, wenn sie dazu aufruft, "jeden Quadratzentimeter des Rechtsstaates zu verteidigen".

© SZ vom 25.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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