Flüchtlingspolitik:EU erwägt, Mauerbau zu bezahlen

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EU-Ratspräsident Charles Michel (l.) und der polnische Premier Mateusz Morawiecki sind sich über wenige Dinge einig, beim Thema Grenzzäune finden sie nun in Warschau zueinander. (Foto: MARCIN OBARA/dpa)

Ratspräsident Michel schlägt sich in der Belarus-Krise voll auf die Seite Polens und bringt die Finanzierung einer "physischen Grenz-Infrastruktur" durch die EU ins Spiel.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Das Vorgehen des belarussischen Autokraten Alexander Lukaschenko könnte man in all seiner Bösartigkeit fast schon wieder genial nennen. Er trifft die Europäische Union an ihrem wundesten Punkt. Denn im Ringen um einen gemeinsamen Umgang mit den Migranten an der belarussischen Grenze zur EU drohen sich die Gräben zwischen den osteuropäischen Staaten, vor allem Polen, und dem Rest der EU zu vertiefen.

Zudem offenbart sich in dieser Krise die Unfähigkeit der EU, in Flüchtlingsfragen eine Haltung zu finden, die sowohl den eigenen humanitären Ansprüchen genügt als auch der Verpflichtung, die Außengrenzen zu sichern. Ratspräsident Charles Michel, der in seiner Funktion die 27 Mitgliedstaaten vertritt, scheint sich nun für einen eindeutigen Weg entschieden zu haben: volle Solidarität mit Polen.

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Vor ihnen Stacheldrahtverhau und Wasserwerfer, hinter ihnen Soldaten, die zur Warnung Schüsse in die Luft feuern: Die Geflüchteten an der belarussischen Grenze zu Polen und Litauen sind Opfer eines zynischen Machtspiels. Für sie gibt es weder Vor noch Zurück.

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"Einer für alle, alle für einen", sagte der Belgier am Dienstagabend bei einer Rede in Berlin. Man sehe sich einer "brutalen, hybriden Attacke" auf die EU-Außengrenzen gegenüber. Auf zynische und schockierende Art und Weise benutze Belarus die Not von Migranten als Waffe; die EU müsse darauf nun eine gemeinsame Antwort finden. Dann sagte er einen Satz, der in einer Rede, die aus Anlass des Mauerfalls gehalten wurde, in jeder Hinsicht bemerkenswert klang: "Wir haben eine Debatte darüber eröffnet, ob die EU eine physische Grenz-Infrastruktur finanziert."

Erst vor zwei Wochen hatten die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen in Brüssel darüber diskutiert, ob die EU Mauern oder Zäune an den Grenzen zu Belarus finanzieren solle. Zwölf Staaten - darunter die betroffenen Staaten Polen, Lettland und Litauen - hatten darauf gedrungen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte jedoch nach dem Gipfel, es könne kein EU-Geld für Mauern, Zäune und Stacheldraht geben.

Michel scheint nun eine Wende einzuleiten. Aus rechtlicher Sicht sei es möglich, "physische Infrastruktur" zum Grenzschutz aus EU-Mitteln zu finanzieren, das gehe aus einer Analyse seines juristischen Dienstes hervor, sagte er. Es liege an der Kommission, Vorschläge zu unterbreiten. Mit seiner Idee von aus EU-Mitteln finanzierter "Grenz-Infrastruktur" reiste Michel am Mittwoch nach Warschau, um dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki die Solidarität der EU zu versichern. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz sagte der Pole, er sei glücklich, dass Europa mit einer Stimme spreche. Morawiecki, der im Streit um die Rechtsstaatlichkeit über Bevormundung aus Brüssel klagt, genoss es sichtlich, nun den Schulterschluss demonstrieren zu können.

Die von der EU angebotene Hilfe der Grenzschutzagentur Frontex scheint er allerdings weiterhin nicht in Anspruch nehmen zu wollen, obwohl ihn Michel ermunterte, für Transparenz an der Grenze zu sorgen. Das betroffene Grenzgebiet bleibt abgeschirmt, auch Journalisten haben keinen Zugang. "Die Präsenz von Medien führt nur zu weiteren Provokationen", sagte Morawiecki. Die Menschen würden vor den Kameras "Spektakel" machen, um die westlichen Medien zu beeinflussen. Was Lukaschenko betreibe, sei "Staatsterrorismus", sagte Morawiecki.

Auch Fluggesellschaften drohen Sanktionen

Charles Michel deutete an, es könnte noch vor dem nächsten regulären EU-Gipfel im Dezember eine Videokonferenz der Staats- und Regierungschefs geben, um eine gemeinsame Antwort zu finden und Sanktionen zu beschließen. Zuletzt hatte die EU im Sommer Sanktionen gegen Lukaschenko verhängt, nachdem er einen zivilen Ryanair-Flug zur Landung gezwungen hatte und einen Regimekritiker verhaften ließ. Damals gab es neben Reiseverboten und Kontensperrungen für Regierungsmitglieder und Offizielle auch wirtschaftliche Sanktionen. Die bereits bestehenden Sanktionen gegen Lukaschenko und seine Unterstützer sollen nun auf einen größeren Personenkreis erweitert werden.

Geplant ist auch, Fluggesellschaften ins Visier zu nehmen, die Migranten aus Afrika oder Asien zur Weiterreise in die EU nach Belarus fliegen. Zudem müssen Reiseveranstalter Sanktionen fürchten. Erste Beschlüsse dazu könnte es bereits am Montag beim Treffen der Außenminister geben. Der für Migrationsfragen zuständige EU-Kommissar Margaritis Schinas soll bei einer Reise durch Herkunfts- und Transitländer die Regierenden ermahnen, die EU zu unterstützen - und gegebenenfalls ebenfalls mit Sanktionen drohen.

Auch Präsidentin von der Leyen kündigte nach einem Gespräch mit US-Präsident Joe Biden in Washington an, man werde die Sanktionen Anfang nächster Woche ausweiten. Der Konflikt belaste auch die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland.

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