EP-Präsident zur Lage Europas:Gaucks Thesen, Schulz' harte Worte

Ein Tag der klaren Worte. Erst liest Joachim Gauck den Vertretern der Wirtschaft mit präsidialer Geste die Leviten. Dann legt Martin Schulz mit der wahren Ruck-Rede nach: Der Präsident des Europaparlaments zeichnet ein düsteres Bild der Lage in Europa und warnt vor einem Rückzug in die vermeintliche nationale Idylle.

Lutz Knappmann, Berlin

Die Wut ist echt. Das ist nicht zu überhören. Martin Schulz ereifert sich, klagt an, bellt Fragen von schmerzhafter Schärfe in den Saal. "Langsam begreifen wir, welchen Preis wir für die Krise zahlen", ruft der Präsident des Europäischen Parlaments (EP) den versammelten Wirtschaftsvertretern zu. "Die Saat von Zwietracht und Groll ist ausgebracht."

Schulz zeichnet ein düsteres Bild der Lage in Europa. Der SPD-Politiker sieht eine "verlorene Generation" junger Europäer, die lieber auswandere, weil sie in ihren Heimatländern wie Spanien keine Perspektiven mehr sieht. Er beschreibt Länder in Lateinamerika, die ihre Grenzen für Auswanderer aus Europa schließen. "Das ist der Kontinent in dem wir leben", mahnt Schulz. Ein Kontinent, den die nationalen Zentrifugalkräfte auseinanderzutreiben drohten.

"Es ist salonfähig geworden, über faule Südländer zu lästern", kritisiert Schulz. "Es ist salonfähig geworden, deutsche Politiker in Nazi-Uniformen abzubilden." Gerade erst ist ein deutscher Konsul in Griechenland angegriffen worden. "Der Wunsch nach einem Rückzug in die vermeintliche nationale Idylle ist verständlich, aber es wäre gefährlich, sich der Illusion hinzugeben, Abschottung sei eine Lösung."

All das ist nicht neu. Schulz' Wut ebensowenig. Der Parlamentspräsident ist bekannt für klare Worte und pointierte Thesen. Er ist ein leidenschaftlicher Kämpfer für die europäische Idee. Aber seine Rede bildet einen bemerkenswerten Kontrast an diesem Tag, in dieser Umgebung. Das Führungstreffen der Süddeutschen Zeitung im Berliner Hotel Adlon, Führungskräfte der deutschen und europäischen Wirtschaft, geballter Sachverstand, Debatten auf hohem akademischen Niveau.

Am Morgen hat Bundespräsident Gauck den Kongress mit einer wegweisenden Rede eröffnet, hat die versammelten "Macher" an ihre Verantwortung erinnert. Haftung und Risiko müssen wieder in einer Hand liegen, lautet eine zentrale These des Präsidenten. Die Finanzmärkte müssen gebändigt werden, die Verbraucher sich damit auseinandersetzen, wie die Produkte entstehen, die sie kaufen. Gauck hat deutlich Position bezogen.

Doch nun, wenige Stunden später, scheint es, als sei die Stimme von "draußen" über die Teilnehmer hereingebrochen. Die Stimme der Demonstranten auf den Straßen und Plätzen der Europäischen Hauptstädte. Im Kern vertritt Schulz ähnliche Thesen wie Gauck: "Haftung und Risiko müssen wieder in einer Hand liegen", zum Beispiel. Aber Schulz formuliert sie bar jeder präsidialen, diplomatischen Zurückhaltung.

Zurück zur Radikalität seiner Kindertage

Man kann über Schulz' Standpunkte streiten, kann ihm Populismus vorwerfen. Aber er formuliert im Adlon jene Fragen, die sich Millionen Menschen in Europa stellen, auf die sie Antworten verlangen. "400 Millionen Euro hat Deutschland am ersten Griechenlandrettungspaket verdient", behauptet Schulz. Der Eindruck, Deutschland verdiene an der Krise der Anderen habe dem Ansehen des Landes geschadet. "Das hat das Gerechtigkeitsempfinden der Leute verletzt." Spanien, Frankreich, Portugal, Griechenland: All die Krisenstaaten hätten gewaltige Sparpakete durchgesetzt. "Lösen die Regierungen etwa nicht ein, was die Märkte von ihnen verlangen?", fragt Schulz. "Nur um sofort durch schlechte Bewertungen der Ratingagenturen wieder abgestraft zu werden."

Er sei, bekennt Schulz, nun wirklich kein radikaler Linker. "Aber manchmal fehlen mir die Worte. Und es brodelt in mir, zur radikalen linken Haltung meiner Kindertage zurückzukehren."

Vielleicht muss er gar nicht so weit gehen. Vielleicht hilft es manchmal schon, die Dinge beim Namen zu nennen, leidenschaftlich Position zu beziehen. An diesem Tag jedenfalls scheint es, als habe der Präsident des Europaparlaments jene Ruck-Rede gehalten, die viele Deutsche vom Bundespräsidenten erwarten.

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