Das Europaparlament hat die Regierungen der EU-Mitglieder mit großer Mehrheit aufgefordert, Ungarn nicht wie geplant im kommenden Jahr die Führung der Union zu überlassen. Für eine entsprechende Resolution, die von allen großen Fraktionen geschrieben und eingebracht worden war, stimmten am Donnerstag 442 EU-Abgeordnete, 144 votierten dagegen.
Ungarn soll im zweiten Halbjahr 2024 turnusgemäß die rotierende Präsidentschaft im Rat der EU übernehmen, dem die Regierungen der 27 Mitgliedsländer angehören. Das Land wäre dann für sechs Monate dafür verantwortlich, die politische und legislative Agenda der Union zu koordinieren und voranzubringen. Daran gibt es Kritik, weil die Regierung in Budapest immer wieder gegen demokratische Werte und rechtsstaatliche Regeln der EU verstößt. Die EU-Kommission hat dem Land deswegen Zuschüsse in Milliardenhöhe gesperrt.
Über die Ratspräsidentschaften entscheidet der Rat alleine und einstimmig, das EU-Parlament hat dabei kein Mitspracherecht. In der Resolution verlangen die Abgeordneten jedoch, dass der Rat "so schnell wie möglich eine gute Lösung" für das Problem der ungarischen Präsidentschaft findet. Andernfalls "könnte das Parlament angemessene Maßnahmen ergreifen".
Ungarns Regierung spricht von "Blödsinn" und könnte damit richtig liegen
Im Moment erscheint es nicht so, als wollten oder könnten die Regierungen dem Parlament Folge leisten. Ungarn die Ratspräsidentschaft wegzunehmen ist rechtlich kaum möglich und politisch überaus heikel. Bei vielen Entscheidungen ist Ungarns Zustimmung notwendig. Selbst Regierungen wie die deutsche, die offen Zweifel daran geäußert haben, dass Ungarn die herausgehobene Rolle einer Ratspräsidentschaft erfolgreich ausfüllen kann, sehen in der Praxis keinen Weg, das zu verhindern. Die ungarische Regierung tut die Debatte daher sehr selbstbewusst als "völligen Blödsinn" ab. Was das Endergebnis betrifft, könnte sie damit sogar richtig liegen.
Insofern wird das EU-Parlament wohl selbst zu den in der Resolution angedrohten "angemessenen Maßnahmen" greifen müssen, wenn Ungarn am 1. Juli 2024 die Ratspräsidentschaft übernimmt. Wie diese in der Praxis aussehen könnten, ist offen. Denkbar wäre zum Beispiel, dass die Abgeordneten dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán untersagen, im Parlament eine Rede zu halten. Ob das Orbán, der seine Verachtung für die EU-Parlamentarier ohnehin kaum verhehlen kann, sehr trifft, ist eine andere Frage.
Darüber hinaus könnte das Parlament die Zusammenarbeit mit der ungarischen Ratspräsidentschaft boykottieren. Aus der Fraktion der Grünen gibt es zum Beispiel die Warnung, man werde sich mit "Autokraten" wie Orbán nicht an einen Verhandlungstisch setzen. Käme es dazu, würden Fortschritte bei der Formulierung und Verabschiedung von EU-Gesetzen verhindert. Doch ob bei einem solchen Boykott noch alle Fraktionen mitmachen, die am Donnerstag für die Resolution gestimmt haben, ist offen.
Hinzu kommt, dass die Arbeit des Parlaments in der zweiten Jahreshälfte 2024 ohnehin eher eingeschränkt ist. Im Juni nächsten Jahres findet die Europawahl statt, in den Monaten danach muss sich das neu gewählte Parlament zunächst konstituieren. Zudem muss eine neue EU-Kommission benannt und vom Parlament bestätigt werden. All das führt manche Beobachter in Brüssel zu dem Schluss, dass die Resolution und die Debatte um den ungarischen Ratsvorsitz vor allem eins ist: Wahlkampf.