Kürzlich berichteten in Brüssel Vertreter von NGOs über ihre Arbeit in Ungarn. Sie erzählten, wie sie und ihre Kollegen - viele sind es nicht mehr - schikaniert und bedroht würden, weil sie sich für Menschen einsetzen, die Hilfe brauchen: Migranten, Minderheiten, Arme. Oder weil sie Kritik üben am Staat des Viktor Orbán. Dessen Regiment erinnere an Russland und die Türkei, sagte eine junge Frau. Es fiel dieser Satz: "Ich weiß, dass eine Kamera des ungarischen Fernsehens läuft. Morgen werden sie wieder herziehen über mich." Und was tut der Rest Europas? Er schaut bislang nur zu, wie ein Mitglied der Union mit voller Absicht in die Unrechtsstaatlichkeit rutscht.
Den Sommer über hat Ungarns Regierung die Repression noch verschärft. Zeitungen veröffentlichten eine Liste von "unfreundlichen" Personen, das "Anti-Soros-Gesetz" kriminalisiert jegliche Unterstützung für Asylbewerber, die nun auch weniger zu essen erhalten. Das alles passiert vor den Augen der Europäer. Orbán hat Medien und Justiz unter seine Kontrolle gebracht, Protest erschwert, ja ausgeschaltet, die Wissenschafts-, Religions- und Versammlungsfreiheit beschränkt. Das Europäische Parlament will nun ein Zeichen des Widerstands setzen, endlich.
Das Parlament hat einen Bericht verabschiedet, der zum ersten Mal das illiberale System Orbán als Ganzes ins Visier nimmt und das Offensichtliche konstatiert: Es bestehe "die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" der europäischen Grundwerte. An diesem Mittwoch werden die Abgeordneten über den nächsten Schritt abstimmen. Sie können die Mitgliedstaaten auffordern, ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einzuleiten, wie es auch schon gegen Polen läuft. Vier Fünftel der Staaten müssten zustimmen, um das Verfahren fortzuführen, das bis zum Entzug der Stimmrechte im Ministerrat führen könnte.
Die Union der Europäer hat Waffen, um das Fundament zu schützen, auf dem sie ruht
Es wäre das erste Mal, dass die Abgeordneten einen solchen Anstoß geben. Ob die nötige Zweidrittelmehrheit zustande kommt, ist offen. Entscheidend wird die Position der Europäischen Volkspartei (EVP) sein. Bei der Abstimmung im Innenausschuss war sie exakt in der Mitte gespalten. Ihr Fraktionschef Manfred Weber steht daher, eine Woche nachdem er sein Interesse an einer Spitzenkandidatur bei der Europawahl geäußert hat, vor einem großen, vielleicht dem wichtigsten politischen Test.
Um es sich nicht mit den Christdemokraten in Nord- und Westeuropa zu verscherzen, muss der CSU-Politiker beweisen, dass ihm die Werte der EU am Herzen liegen. Bisher gilt er als Bewunderer Ungarns, er hat Orbáns Politik stets verteidigt. Dass dessen Partei Fidesz noch immer zur EVP zählt, ist der eigentliche Grund, warum in Brüssel noch nichts gegen Ungarn unternommen wurde.
Scheinbar hat sich Weber nun bewegt, er fordert "Konzessionen" von Orbán. In der Debatte an diesem Dienstag in Straßburg wird sich zeigen, was davon zu halten ist. Es steht nicht zu erwarten, dass der Premierminister über Nacht all die repressiven Gesetze zurücknimmt. Von der liberalen Demokratie ist er schon weiter entfernt als viele ahnen. Glaubwürdig wäre Weber also nur, wenn er ernsthaft eine Mehrheit gegen Orbán organisiert.
Die Union der Europäer hat Waffen, um das Fundament zu schützen, auf dem sie ruht. Politiker wie Viktor Orbán wollen dieses Fundament zerstören. Es ist höchste Zeit, die Waffen einzusetzen.