Süddeutsche Zeitung

EU-Parlament:Ohne die Liberalen geht nichts

Lesezeit: 3 Min.

Christ- und Sozialdemokraten haben bei der vergangenen Europawahl kräftig verloren. Die liberale "Renew"-Fraktion hat deshalb nun eine Schlüsselrolle inne. Diese neue Macht versucht sie ausnutzen.

Von Karoline Meta Beisel und Matthias Kolb, Brüssel

Von Montag an müssen sich die Anwärter auf die Kommissarsposten der Europäischen Union den Fragen der Abgeordneten des EU-Parlaments stellen, und wenn man Dacian Cioloș glauben will, haben sie allen Grund, nervös zu sein. "Das war der schwierigste Moment in meinem Leben", sagt er. Der Rumäne weiß, wovon er spricht: 2010 musste er selbst eine solche Anhörung überstehen, bevor er Kommissar für Landwirtschaft werden konnte, damals unter José Manuel Barroso. Nach einem Ausflug in die nationale Politik als Premier ist Cioloș seit der Europawahl zurück in Brüssel: Er ist der neue Chef der Liberalen im Europaparlament.

Der 50-Jährige ist außerhalb seiner Heimat zwar noch einigermaßen unbekannt, aber in der Europapolitik ist der studierte Landwirt eine der wichtigsten Figuren. Das liegt vor allem an den veränderten Machtverhältnissen: Christ- und Sozialdemokraten haben bei der vergangenen Europawahl kräftig verloren und verfügen im Parlament nur noch gemeinsam über eine Mehrheit. Die Liberalen dagegen haben hinzugewonnen - auch durch den Zusammenschluss mit der Partei La République en Marche (LREM) des französischen Präsidenten Emmanuel Macron.

Die künftige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist darauf angewiesen, dass Macron sie im Rat der Regierungschefs unterstützt. Das stärkt letztlich auch die liberale Renew-Fraktion im Parlament - auch wenn Cioloș betont, dass die Franzosen gerade mal ein Fünftel seiner Fraktion aus 108 Abgeordneten ausmachen. So oder so: Von der Leyen braucht die Stimmen der Liberalen. Ohne Cioloș hat sie praktisch keine Chance, auch nur ein einziges ihrer Vorhaben umzusetzen.

"Ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt eine Vision hat"

Dabei verlief die erste Begegnung eher holprig: "Um ehrlich zu sein, war ich mir nach unserem ersten Treffen nicht sicher, ob sie überhaupt eine Vision hat und wirklich Kommissionspräsidentin sein will", sagt Cioloș. Ein Auftritt von der Leyens vor der ganzen Fraktion und ein Brief, den sie einige Tage später an die Liberalen schrieb, hätten die Abgeordneten dann aber überzeugt, sie im Juli doch zur neuen Kommissionspräsidentin zu wählen.

Das heißt aber nicht, dass die Liberalen deswegen von der Leyens Kandidaten für die Kommissarsposten einfach durchwinken werden. "Mir geht es nicht so sehr darum, wie dieser oder jene Kommissar dort auftreten wird", sagt Cioloș. "Uns ist es wichtig, ob die neue Kommission Europa insgesamt weiterbringen kann, und wie die einzelnen Kandidaten dazu beitragen."

Wie dieses "Weiterbringen" konkret aussehen soll, dafür nennt Cioloș vier Prioritäten. Die Digitalisierung werde den Alltag der Bürger enorm verändern, Europa müsse hier viel aktiver werden - auch, um bei seinem zweiten Anliegen weiterzukommen: dem Kampf gegen den Klimawandel. Renew gehe es nicht um Klimaschutz "um des Prinzips willen", sondern um pragmatische Lösungen. Hier zeigt sich, dass die neue Fraktion breiter aufgestellt ist als die alte, eher marktgläubige Alde-Gruppe: Gegen ein gewisses Maß an Regulierung sei nichts einzuwenden, diese sei sogar erwünscht. So legte sich seine Parteikollegin, Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, mit den Tech-Konzernen an.

Das dritte Ziel sei, die individuelle Freiheit der Bürger zu sichern. Rechtsstaatlichkeit sei dafür unerlässlich, und Cioloș ist sehr zufrieden, dass dieses Portfolio von zwei Renew-Kommissaren betreut werden soll, nämlich von der Tschechin Vĕra Jourová und Didier Reynders aus Belgien.

Cioloș will das Erasmus-Programm für Ausbildungsberufe öffnen

Mit ihnen will er ebenso eng kooperieren wie mit Sylvie Goulard, die beste Beziehungen zu Emmanuel Macron pflegt und die als Kommissarin für den Binnenmarkt in von der Leyens Team eine Schlüsselrolle spielen wird. Cioloș will sich dafür einsetzen, dass mehr neue Jobs entstehen, vor allem für junge Menschen: "Das ist die Generation, mit der wir Europa erneuern müssen", sagt Cioloș. Bei jungen Europäern beobachte er eine gute Mischung aus Heimatverbundenheit und europäischem Bewusstsein, das sich auf Reisen oder im Erasmus-Semester bilde. Darum will er das studentische Austauschprogramm für andere Ausbildungswege öffnen.

Große Hoffnungen setzt Cioloș auf die "Konferenz zur Zukunft Europas", die von der Leyen im Juli in ihrer Rede vor dem EU-Parlament angekündigt hat. In dem Prozess will Renew nicht nur das Spitzenkandidaten-Prinzip fester verankern, nach dem nur Kommissionspräsident werden kann, wer im Wahlkampf für dieses Amt angetreten ist. Die Bürger sollen außerdem die Chance bekommen, Einfluss auf die politischen Prioritäten der EU zu nehmen. In Brüssel geht man davon aus, dass Guy Verhofstadt bei diesem Prozess eine wichtige Rolle spielen wird, Cioloș' wortgewaltiger Vorgänger als Fraktionschef.

Der Rumäne tritt bescheidener auf als Verhofstadt und sieht sich als Teamplayer. Auf seinem Schreibtisch im fünften Stock des Europaparlaments steht eine kleine Rumänien-Fahne. Jedes Wochenende verbringt er in seiner Heimat. Er hofft, dass die postkommunistische Regierung 2021 abgewählt werden wird. Dass sein Land in Westeuropa zuletzt vor allem mit Korruption assoziiert wurde, werde seiner Heimat nicht gerecht, findet er. "Hunderttausende haben gegen die Regierung protestiert, als das Rechtssystem umgebaut wurde. Es ist dieser Protest der Zivilgesellschaft, der das Image von Rumänien prägen sollte."

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Quelle:
SZ vom 27.09.2019
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