Süddeutsche Zeitung

EU-Parlament:Ein Spitzenjob soll drin sein

Die europäischen Sozialdemokraten müssen mit Verlusten rechnen. Aber S&D-Fraktionschef Udo Bullmann setzt auf eine "progressive Mehrheit".

Von Matthias Kolb, Brüssel

Ungeachtet sich abzeichnender deutlicher Verluste bei der Europawahl erheben Europas Sozialdemokraten Anspruch auf eine Führungsrolle und künftige Spitzenämter. "Wir wollen mit Frans Timmermans den nächsten Präsidenten der EU-Kommission stellen", sagte Udo Bullmann, der Fraktionschef der Sozialdemokraten (S&D) im Europaparlament. Der SPD-Politiker sprach der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der CDU und CSU gehören, die Kraft ab, Europa reformieren zu können. Die EVP stehe für Stillstand.

Bisher stellen EVP und S&D die Mehrheit im Europaparlament, dessen 751 Abgeordnete vom 23. bis zum 26. Mai neu gewählt werden. Umfragen zufolge kommt die EVP künftig auf etwa 170 Sitze (bisher 216), während die Sozialdemokraten 144 Abgeordnete stellen würden (bisher 187). Allerdings profitieren die Sozialdemokraten, anders als die EVP, vom verschobenen Brexit: Labour ist Teil der S&D, während keine britische Partei der EVP angehört.

Bullmann gab sich trotz der ernüchternden Zahlen optimistisch, "eine progressive Mehrheit" unter Führung von S&D ohne die EVP bilden zu können. Im Zentrum des Programms des nächsten EU-Parlaments und der nächsten Kommission sollte demnach ein europaweiter Mindestlohn, mehr Nachhaltigkeit sowie der Kampf gegen Armut stehen, forderte Bullmann: "Niemand wird ausgeschlossen, der sich diesen Zielen verpflichtet fühlt." Neben den Grünen sowie der Vereinten Europäischen Linken, den natürlichen Verbündeten der S&D, müssten sich auch die Liberalen sowie die Partei La République en Marche von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron anschließen. "In Südeuropa träumen die Genossen schon von einer Mehrheit, die von Alexis Tsipras bis Macron reicht", berichtete Bullmann. Er unterstütze Macrons Wunsch, die EU schlagkräftiger zu machen und ihr bessere Instrumente zu geben, doch der Franzose müsse entscheiden, mit welchen Partnern er dies erreichen wolle.

Bullmann machte deutlich, wie wichtig seiner Gruppe das Spitzenkandidaten-Prinzip sei. Er setze darauf, dass die Staats- und Regierungschefs, die zwei Tage nach der Europawahl zu einem Sondergipfel zusammenkommen, "die Zeichen der Zeit erkennen" und keine Rückschritte bei Transparenz und Demokratisierung zulassen würden. Ebenso wie Manfred Weber (CSU), der Spitzenkandidat der EVP, wird Bullmann Stunden vor dem Sondergipfel dabei sein, wenn die Fraktionschefs des Europaparlaments über das Wahlergebnis beraten werden. Auf die Frage, ob S&D bereit sei, Weber als nächsten Kommissionschef zu unterstützen, um das seit 2014 angewandte Verfahren zu retten, sagte Bullmann: "Wir sind überzeugt, dass Frans Timmermans eine Mehrheit erhält."

Eine Schlüsselrolle beim Personalpoker kommt Spaniens Premierminister Pedro Sánchez zu, den die Sozialdemokraten zu ihrem Verhandlungsführer gemacht haben. Mit Portugals Ministerpräsident António Costa sprach Sánchez am Rande des EU-Sondergipfels wie mit Charles Michel und Mark Rutte, den liberalen Regierungschefs aus Belgien und den Niederlanden.

Derzeit dreht sich "nichts um Entscheidungen, und alles um Gerüchte"

Dieses Gespräch der "Sherpas" sorgt in Brüssel für viel Gesprächsstoff. Nun sei wieder jene Zeit, in der sich in der EU-Hauptstadt "nichts um Entscheidungen und alles um Gerüchte" drehe, sagte kürzlich eine hochrangige EU-Diplomatin. Die Spekulationen um die Top-Jobs dominieren alle Gespräche, zumal neben den Präsidenten von EU-Kommission und Europaparlament auch Nachfolger für Mario Draghi und Donald Tusk an der Spitze der Europäischen Zentralbank und des Europäischen Rats gefunden werden müssen.

Zudem gilt es, den Regionalproporz und das Geschlechterverhältnis zu beachten. Deshalb sind zurzeit oft Sätze wie "Wenn die EVP eine Frau nominieren würde . . ." zu hören, wenn das Szenario durchdiskutiert wird, dass sich keine Mehrheit für die Spitzenkandidaten Weber, Timmermans oder die Liberale Margrethe Vestager finden sollte. Ein Joker könnte die Bulgarin Kristalina Georgiewa sein, die zurzeit bei der Weltbank arbeitet. Sie gehört nicht nur der EVP an und kommt aus Osteuropa, sondern hat in Brüssel viele Fans aus der Zeit bis 2017, als sie Vizepräsidentin der EU-Kommission war.

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SZ vom 16.05.2019
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