RechtsstaatlichkeitDie EU schickt Viktor Orbán eine letzte Mahnung

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Eine Teilnehmerin hält während der Pride-Parade in Budapest im Juli 2022 ein geschminktes Porträt des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán hoch.
Eine Teilnehmerin hält während der Pride-Parade in Budapest im Juli 2022 ein geschminktes Porträt des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán hoch. (Foto: Ferenc Isza/AFP)

In Brüssel schwindet die Geduld mit dem Ungarn. Die meisten Regierungen sind empört über das Verbot der Pride-Parade in Budapest – aber verhängen sie am Ende wirklich die Höchststrafe?

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Mit ausgesuchter Höflichkeit stellte sich der Neue aus Deutschland am Dienstag auf dem roten Teppich in Brüssel vor: Gestatten, Gunther Krichbaum, Staatsminister für Europa. Die erste Erklärung allerdings, die er in seiner neuen Funktion im Namen der Bundesregierung abgab, war an Schärfe kaum zu überbieten. Sie richtete sich an Viktor Orbán, den ungarischen Regierungschef und Outlaw der EU, der in seinem Land immer mehr Grundrechte aushöhlt und in Brüssel wichtige Entscheidungen blockiert.

Die Geduld mit Orbán und seinen Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien der EU schwinde von Tag zu Tag in Europa, sagte Krichbaum im Brüsseler Ratsgebäude. „Wir hoffen natürlich, dass Ungarn den Ernst der Lage irgendwann wirklich erkennt.“ Falls nicht, müsse die EU sehen, wie man „in medias res“ gehen könne. Auf die Frage, wie die EU zur Sache kommen sollte, schien der CDU-Politiker nichts auszuschließen: vom Entzug vieler weiterer Milliarden an Fördergeldern bis hin zum Entzug des Stimmrechts in der EU, der ultimativen Strafe, in Brüssel auch „nukleare Option“ genannt.

Seit sieben Jahren läuft gegen Ungarn das sogenannte Artikel-7-Verfahren zum Schutz der Grundwerte der EU. Es könnte bis hin zum Entzug des Stimmrechts führen, doch bislang scheuten die meisten Mitglieder davor zurück, Ernst zu machen. Beratungen über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn standen am Dienstag im „Rat für Allgemeine Angelegenheiten“ auf der Tagesordnung. Und Krichbaum war vor der Sitzung nicht allein mit seinem drohenden Ton. Wie orchestriert wirkten die Statements vieler Ministerinnen und Minister vor Beginn des Treffens. Tenor: Dies ist eine letzte Mahnung, Viktor Orbán!

Um Verstöße zu ahnen, dürfen Behörden eine Gesichtserkennungssoftware einsetzen

Aktueller Anlass für die Empörung war Orbáns Beschluss, die Pride-Parade Ende Juni in Budapest zu verbieten. Die niederländische Regierung hatte deshalb ein Protestpapier verfasst, dem sich 19 weitere anschlossen, darunter die deutsche. Die EU-Kommission wird darin aufgefordert, Sofortmaßnahmen gegen Ungarn auf den Weg zu bringen, um Orbán zum Einlenken zu bewegen.

„Wir sind sehr beunruhigt über diese Entwicklungen“, heißt es in dem Schreiben. Eine Reihe ungarischer Gesetze, die unter dem Deckmantel des Kinderschutzes Strafen gegen Organisatoren und Teilnehmer von LGBTQ-Veranstaltungen androhen, stünden „im Widerspruch zu den grundlegenden Werten der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichheit und der Achtung der Menschenrechte, wie sie in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind“, heißt es in der Erklärung.

Er droht Orbán auch mit Strafen, sollte der sein geplantes „Transparenzgesetz“ nicht zurückziehen: der für Rechtsstaatlichkeit zuständige EU-Kommissar Michael McGrath.
Er droht Orbán auch mit Strafen, sollte der sein geplantes „Transparenzgesetz“ nicht zurückziehen: der für Rechtsstaatlichkeit zuständige EU-Kommissar Michael McGrath. (Foto: Omar Havana/AP)

Orbán hatte, um die Pride-Parade verbieten zu können, Mitte April eine Verfassungsänderung verabschieden lassen. Sie schränkt die Versammlungsfreiheit dahin gehend ein, dass alle Zusammenkünfte, bei denen „bei Minderjährigen für Homosexualität und Geschlechtsveränderungen geworben“ werde, verboten sind. Um Verstöße zu ahnden, wird den Behörden erlaubt, eine Gesichtserkennungssoftware einzusetzen.

Der für Fragen der Rechtsstaatlichkeit zuständige EU-Kommissar Michael McGrath aus Irland hatte schon vorab erklärt, angeblicher „Kinderschutz“ sei kein Grund, um die Versammlungsfreiheit einzuschränken. Vor der Ratssitzung kritisierte er zudem Orbáns Entwurf für ein „Transparenzgesetz“, das die Arbeit von unabhängigen Medien und Nichtregierungsorganisationen gefährdet. McGrath drohte Orbán mit Strafen, sollte das Gesetz nicht zurückgezogen werden.

Sollte sich Orbán wirklich verweigern, hätte die EU ein ernstes Problem

Konkrete Beschlüsse wurden bei der Sitzung zunächst nicht erwartet. Sinn der Übung war es wohl, Orbán unter Druck zu setzen. Dabei hat man in Brüssel vor allem die Verlängerung der Sanktionen gegen Russland im Blick, die bis Ende Juli über die Bühne gehen muss. Dafür ist wieder Einstimmigkeit gefordert. Sollte sich Orbán wirklich verweigern, hätte die EU ein ernstes Problem. Orbán wiederum müsste damit rechnen, dass das Artikel-7-Verfahren vorangetrieben wird.

Das Europaparlament brachte das Verfahren im Jahr 2018 in Gang. Die Liste der Vorwürfe an die ungarische Regierung reicht von Angriffen auf die Unabhängigkeit der Justiz über Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit bis hin zur Diskriminierung von Minderheiten. Im nächsten Schritt müsste der Rat der Mitgliedsländer feststellen, dass in Ungarn „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung von Grundrechten“ besteht. Dazu wäre eine Mehrheit von vier Fünfteln der Staaten erforderlich, und die scheint nicht mehr außer Reichweite zu liegen. Es wäre ein höchst symbolischer Schritt. Um Orbán wirklich das Stimmrecht zu entziehen, müssten alle anderen 26 Staats- und Regierungschefs an einem Strang ziehen. Das würde wohl zumindest am Slowaken Robert Fico scheitern.

Die Regierungen sind in dem Verfahren seit 2018 nicht weiter gekommen, als jedes Jahr einmal Ungarn zu den Vorwürfen zu befragen. Das sollte auch an diesem Dienstag geschehen. Die schwedische Europaministerin Jessica Rosencrantz sagte vor Beginn der Sitzung ernüchtert: „Nach sieben Jahren und sieben Anhörungen sind wir an einem Scheideweg angelangt.“ Sollte Ungarn nicht „einen völlig neuen Ansatz zeigen“, könne man sich diese Übung sparen. Es sei dann höchste Zeit, „über die nächsten Schritte nachzudenken“.

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