Migration:Vorauswahl an den Außengrenzen

Refugees and migrants from the destroyed Moria camp line up to enter a new temporary camp, on the island of Lesbos

Die EU will „unerwünschte Bewegungen“ vermeiden und setzt auf Asylzentren: Flüchtlinge stehen auf der griechischen Insel Lesbos Schlange vor einem neuen temporären Lager.

(Foto: REUTERS)

Die EU will Asylbewerber ohne Aussicht auf Erfolg schneller abschieben. Wie realistisch ist die geplante Reform? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Karoline Meta Beisel, Brüssel, Constanze von Bullion, Berlin, und Nina von Hardenberg

Mit zehn neuen Gesetzesvorschlägen will die EU-Kommission die Asyl- und Migrationspolitik reformieren. Als nächstes werden sich das EU-Parlament und der Rat der Mitgliedstaaten mit den Vorschlägen befassen, was angesichts des Umfangs des Projekts einige Zeit dauern dürfte. Schon jetzt aber zeigt sich, dass einige Fragen für heftige Diskussionen sorgen werden.

Was wird aus dem umstrittenen Dublin-Abkommen?

Die EU-Kommission will die Dublin-Verordnung ersetzen, aber praktisch bliebe auch mit den neuen Vorschlägen vieles beim Alten: Wie bisher sollen die EU-Länder an der Außengrenze grundsätzlich für die Asylverfahren von allen Menschen zuständig sein, die dort europäischen Boden betreten. Die Fälle, in denen ein anderer Staat das Verfahren übernehmen muss, sollen aber deutlich ausgeweitet werden. Etwa auf Fälle, in denen Geschwister des Geflüchteten bereits in einem anderen EU-Staat leben. Dann soll dieser Staat zuständig sein.

Die EU-Kommission setzt auf schnellere Abschiebungen. Ist das realistisch?

Bisher nicht. An den EU-Außengrenzen soll ein neues, beschleunigtes Grenzverfahren eingeführt werden, also eine Schnellauswahl Geflüchteter. Wer aus einem Land mit niedrigen Anerkennungsquoten für Asylbewerber kommt, soll das Verfahren in drei Monaten durchlaufen - und bei Ablehnung möglichst sofort abgeschoben werden.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) geht davon aus, dass auf diese Weise zwei Drittel der derzeitigen Asylbewerber gar nicht mehr in andere EU-Staaten weiterreisen könnten. Wie die eigentlichen Abschiebungen beschleunigt werden sollen, kann er aber nicht beantworten. Denn oft fehlen Pässe oder Herkunftsstaaten kooperieren nicht. Der Kommission zufolge sollen die EU-Staaten einander künftig helfen, solche Dokumente zu besorgen.

Aber selbst in Deutschland, wo die Gesetze erheblich verschärft wurden und die Behörden als vergleichsweise gut organisiert gelten, lässt sich die Zahl der Abschiebungen nicht erhöhen, im Gegenteil. Im Flüchtlingsjahr 2015 wurden aus Deutschland 20 888 Personen abgeschoben. 2016 waren es 25 375. Seither sank die Zahl der Rückführungen kontinuierlich auf 22 097 Fälle im Jahr 2019, bei rückläufigen Flüchtlingszahlen. 2020 brachen die Abschiebungszahlen regelrecht ein, auch wegen Corona. Bis August wurden nur 6550 abgelehnte Asylbewerber aus Deutschland ausgeflogen. Seehofers Ziel schnellerer Abschiebungen wurde weit verfehlt. Ähnlich könnte es an den EU-Außengrenzen kommen.

Warum gibt es so wenige Rückführungsabkommen mit Herkunftsländern?

Herkunftsstaaten haben oft kein Interesse an der Rücknahme von Bürgern - es sei denn, die EU bietet eine Gegenleistung. Die Ukraine und die Westbalkanländer nehmen abgelehnte Asylbewerber zurück. Die EU gewährt Touristen aus diesen Ländern dafür Visafreiheit. Menschen vom Westbalkan dürfen zudem als Arbeitskräfte einwandern, wenn sie ein Jobangebot haben.

Solche Abkommen sollten Modell stehen für Vereinbarungen mit Ländern wie Tunesien oder Marokko sein, fordert der Migrationsforscher Gerald Knaus: "Hier bleibt die EU-Kommission aber sehr vage." Ein fester Stichtag sei zudem wichtig. Kein Land der Welt würde rückwirkend alle im Ausland lebenden Bürger zurücknehmen. Für ein Rückführungsabkommen nach Gambia hat Knaus einen Vorschlag erarbeitet. Die Idee: 10 000 vor allem in Baden-Württemberg lebende und nicht straffällig gewordene Gambier können dort bleiben und arbeiten. Dafür nimmt Gambia ab sofort alle Neuankommenden zurück.

Werden Migranten in Asylzentren an den EU-Außengrenzen eingesperrt?

Vermutlich schon. Die Kommission sagt zwar, dass sie den EU-Ländern nichts derartiges vorschreiben wird. Neue Morias wolle man nicht. Sie weist auch darauf hin, dass die bloße Tatsache, dass jemand Asyl sucht, nicht reicht, um ihn festzusetzen. Praktisch dürfte es aber trotzdem so kommen: Zum einen sollen die EU-Länder während des neuen Screening-Verfahrens, das der Einreise vorgelagert ist, verhindern dass die Ankommenden ihr Staatsgebiet betreten - das wird sich nicht anders als über geschlossene Unterkünfte durchsetzen lassen. Dann aber ist der Weg nicht weit, zumindest auch für die Asylverfahren an der Grenze auf geschlossene Unterbringung zu setzen - zumal die Kommission "unerwünschte Bewegungen" durch die EU vermeiden will, wie es in den Vorschlägen heißt. Anderes könnte für jene Menschen gelten, deren Anträge in einem klassischen Verfahren weiterbearbeitet werden, weil sie eine größere Chance auf Asyl haben.

Können Staaten gezwungen werden, Asylbewerber aufzunehmen?

Direkt nicht - indirekt aber schon: Grundsätzlich können EU-Länder stets wählen, ob sie sich durch Aufnahme von Flüchtlingen oder durch Hilfe bei den Abschiebungen solidarisch zeigen. Wenn es einem Staat aber nicht gelingt, die Menschen wirklich zurück zu bringen, ist er nach acht Monaten - im Krisenfall sogar nach vier - verpflichtet, die Abschiebekandidaten zu sich zu holen und es von dort aus weiterzuversuchen. Auf diesem Weg könnte es darum doch vorkommen, dass die neuen Regeln einen Staat verpflichten, Menschen zumindest vorübergehend aufzunehmen.

Wie reagieren die EU-Länder?

Verhalten bis kritisch. Ungarn und Tschechien fordern weitere Hotspots außerhalb der EU, um Migration zu stoppen - während etwa Griechenland darauf pocht, Menschen auf alle EU-Länder zu verteilen. Als erste Reaktion hat aber kein einziger Regierungschef es abgelehnt, über die Vorschläge zu diskutieren. Ungarns Ministerpräsident Orbán lobte sogar den "Ton" der neuen Vorschläge. Angesichts des bisherigen Stillstands in der Debatte könnte man das fast als gutes Zeichen werten.

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