Zuerst war die Wut der Bauern zu hören, sie hupten und tröteten, dann sah man sie demonstrieren und roch den Qualm. In den Straßen rund um den Ort, von dem aus Ursula von der Leyen das EU-Viertel überblickt, brannte es im Winter und Frühjahr mehrmals, als Landwirte aus mehreren Ländern die Zufahrten zum Machtzentrum der Europäischen Union verstopften. Sie zündeten Reifen an, setzten Heu in Brand, sie versprühten Gülle und fuhren mit ihren Maschinen auf Polizeisperren zu; die belgischen Beamten ließen sie gewähren. In Brüssel kulminierten die Bauernproteste, mit denen Landwirte quer durch Europa ihren Ärger auf die Straßen trugen.
Kommissionspräsidentin von der Leyen hatte da längst einen Vorschlag gemacht, um dieser Wut zu begegnen: Es wäre doch gut, mal mit den Bauern zu reden und die Gründe für ihre Unzufriedenheit zu erforschen, sagte sie sinngemäß im September vor einem Jahr in ihrer Rede zur Lage der EU. Damit am Ende eine Reform der EU-Agrarpolitik herauskommt, die den vielen verschiedenen Interessen in diesem umkämpften Feld – Landwirtschaft und Ernährung – gerecht wird. Eine solche Reform steht an, sobald die neuen Kommissarinnen und Kommissare ihre Büros bezogen haben: von der Leyen hat versprochen, innerhalb der ersten hundert Tage ihrer zweiten Amtszeit einen Fahrplan für die Zukunft der EU-Landwirtschaft vorzulegen.
Subventionen sollen abhängig vom Einkommen des Bauern vergeben werden
Am Mittwoch nahm die Kommissionschefin ein Werk entgegen, das Grundlage für diese Reformen sein soll. Es ist das Ergebnis des von ihr ins Leben gerufenen „strategischen Dialogs“ zur Zukunft der Landwirtschaft in der EU, ein gut 100-seitiges Strategiepapier, auf das sich die Teilnehmer des Dialogs vorige Woche geeinigt haben. Was an sich schon erstaunlich ist, denn an den Gesprächen haben Vertreter von Bauernverbänden und Lebensmittelkonzernen genauso teilgenommen wie Verbraucherschützer, Umweltaktivisten und Wissenschaftler. Das sei „bereits ein großer Erfolg“, sagte von der Leyen, die an diesem Tag auffallend oft ihre Wertschätzung für die Bauern betonte. „Es zeigt, dass es mit den richtigen Strukturen möglich ist, die polarisierte Debatte zu überwinden und Vertrauen zu schaffen.“
Als gemeinsamer Nenner ist herausgekommen, dass die EU künftig jene Landwirte mehr unterstützen soll, die besonders unter dem globalen Wettbewerb und den Folgen des Klimawandels leiden. Ein zentraler Vorschlag des Gesprächskreises würde radikal verändern, wie Brüssel Geld unter Landwirten verteilt: Anstatt sie abhängig von der Fläche auszuzahlen, die einem Betrieb gehört, sollten die Mittel künftig vor allem abhängig vom Einkommen des jeweiligen Bauern vergeben werden – um Kleinbauern zu unterstützen, junge Landwirte und Neueinsteiger, und um zu vermeiden, dass immer mehr Bauern aufgeben. Die Agrarsubventionen sind der größte Posten im mehrjährigen Haushalt der EU, machen ein Drittel aller Gelder aus; im aktuellen Budget sind es fast 387 Milliarden Euro.
Die Gemeinsame Agrarpolitik, kurz GAP, solle sich künftig auf veränderte Ziele konzentrieren, heißt es in dem Bericht: Subventionen jenen zugutekommen, „die sie am dringendsten benötigen“, was durch eine standardisierte Analyse der Wirtschaftlichkeit von Betrieben nachgewiesen werden solle. Außerdem sollten die „Förderung positiver ökologischer, sozialer und tierschutzrelevanter Ergebnisse für die Gesellschaft“ im Vordergrund stehen – wer nachhaltig wirtschaftet, bekäme also relativ mehr Geld. Die Dialogteilnehmer schlagen darüber hinaus einen neuen „Fonds für gerechte Transformation“ vor, „um den Übergang des Sektors zur Nachhaltigkeit zu beschleunigen“.
Kommissionspräsidentin von der Leyen zeigte sich am Mittwoch erfreut ob der Ideen. „Wir müssen eine Landwirtschaft unterstützen, die für die Natur und mit der Natur arbeitet“, sagte sie bei einem gemeinsamen Auftritt mit dem Vorsitzenden des Dialogs, Peter Strohschneider. „Und wir wissen, dass dies nur mit einem effizienten System von Belohnungen und Anreizen möglich ist.“
Ein neues Gremium soll die EU-Kommission beim Thema Landwirtschaft beraten
Strohschneider, ein früherer deutscher Hochschullehrer, der 2021 schon ein ähnliches Format in Deutschland geleitet hatte, sprach sich anhand der Empfehlungen des Berichts auch für ein neues Gremium aus, das die EU-Kommission bei den Reformen im Agrarbereich beraten solle. „Wir empfehlen auch eine institutionelle Struktur für die Fortführung des Dialogformats, einen Beirat, den wir vorläufig European Board for Agri Food (Ebaf) nennen“, sagte Strohschneider.
Als Reaktion auf die massiven Bauernproteste hatte die Kommission im Frühjahr bereits eine Reihe von Auflagen gelockert. So entband sie Europas Landwirte von der Pflicht, vier Prozent ihrer Ackerflächen brachliegen zu lassen. Wer es weiterhin tut, muss dafür vom Staat entlohnt werden. Auch die Regeln für die Fruchtfolge, die erlassen worden waren, damit die Böden sich besser erholen können, fallen nun weniger streng aus. Bei Betrieben unter zehn Hektar Fläche wird nicht mehr regelmäßig kontrolliert, ob sie die Regeln wirklich anwenden. Von der Leyen kündigte am Mittwoch an, „diesen Weg gemeinsam mit den Mitgliedstaaten fortzusetzen“ – es den Bauern also so einfach wie möglich zu machen, ein „faires und ausreichendes Einkommen“ zu erzielen.