Die EU befindet sich im Dauerkrisenmodus, schon seit mehr als zehn Jahren. Von der Euro-Krise über die Flüchtlingsfrage und den Brexit bis zur Pandemie und dem Ukraine-Krieg: Stets waren europäische Lösungen gefragt, mussten weitreichende Entscheidungen unter Zeitdruck gefällt werden.
Die Effizienz, die die EU dabei an den Tag legte und ihr einigen Zuspruch eingebracht hat, ist erstaunlich. Ist das dieselbe Union, die zu anderen Zeiten nächte- oder monatelang um einen Beschluss rang?
Dass es zuletzt oft schneller und geräuschloser ablief, liegt nicht nur an politischer Entschlossenheit oder dem Geschick von Protagonisten wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sondern auch daran, dass die EU häufiger auf das übliche, oft langwierige Gesetzesverfahren verzichtete und sich auf ein Kriseninstrument stützte: Artikel 122 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU.
Für den Notfall, "insbesondere falls gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren, vor allem im Energiebereich, auftreten", gestattet er unter Berufung auf die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten nicht näher bestimmte "Maßnahmen". Absatz zwei erlaubt zusätzlich Finanzhilfe an einzelne Staaten, die aufgrund von Naturkatastrophen oder "außergewöhnlichen Ereignissen", die sich ihrer Kontrolle entziehen, in Not geraten sind oder geraten könnten.
Wo die EU eigentlich nur koordinieren darf, lenkt sie plötzlich
Der Artikel ermöglicht sehr weitreichende Eingriffe, und zwar ohne das Europäische Parlament nach seiner Meinung fragen zu müssen (bei den Finanzhilfen muss es lediglich "unterrichtet" werden). Kein Wunder, dass ihn die Kommission und der Rat der Mitgliedstaaten vor allem während der Pandemie oft gezückt haben: etwa bei der gemeinsamen Beschaffung von Impfstoffen, bei den Kurzarbeitergeldprogrammen, die mit Darlehen von 100 Milliarden Euro gefördert wurden, beim Corona-Wiederaufbaufonds, für den 800 Milliarden Euro zur Verfügung stehen, beim Beschluss, die Mitgliedstaaten zu erheblichen Einsparungen beim Gasverbrauch zu zwingen und bei weiteren Notfallmaßnahmen gegen die hohen Energiepreise.
Damit haben die Akteure, wenn auch zeitlich beschränkt, der EU ein beträchtliches Maß an neuer Verantwortung zugesprochen - mit Artikel 122 als Allzweckmittel. Wo die EU eigentlich nur koordinieren darf, lenkt sie plötzlich, indem sie Reformen und Investitionen für "nachhaltiges Wachstum" einfordert, Preiskontrollen erlässt, Übergewinne von Energiekonzernen besteuert. Zum Teil geht das über die unmittelbare Krisenbekämpfung deutlich hinaus. Ein Beobachter spricht von einem "Paradigmenwechsel". Indirekt betreibe die EU nun Wirtschaftspolitik, zu der sie eigentlich nicht ermächtigt sei. Vermutlich werden die Maßnahmen auch Präzedenzcharakter haben und Entscheidungen in ähnlichen Lagen vorzeichnen.
Was könnte daran auszusetzen sein, wenn die EU damit so gut durch die Krisen gekommen ist? Ist die Rechtsgrundlage nicht sekundär, solange die EU liefert?
Zunächst: Rein rechtlich ist das Vorgehen wohl in Ordnung. In der Not schlage eben die Stunde der Exekutive, sagt der Berliner Verfassungsrechtler Alexander Thiele, und Artikel 122 sei für genau solche Situationen wie die Gaskrise 2022 geschaffen worden. Im Zweifel könne der Europäische Gerichtshof darüber wachen, dass der Artikel nicht maßlos in Anspruch genommen wird. Was den Corona-Wiederaufbaufonds und die Absicht der EU betrifft, sich dafür in größerem Umfang zu verschulden, hat auch das Bundesverfassungsgericht schon sein Plazet zur Berufung auf Artikel 122 gegeben.
"Das Europäische Parlament wurde an den Rand geschoben."
Andere hingegen weisen auf den Preis hin, den die EU für ihre Effizienz auf Kosten der Demokratie zahle. Päivi Leino-Sandberg von der Universität Helsinki und Matthias Ruffert von der Berliner Humboldt-Universität sprechen von einer "neuen Superkompetenz", die keiner wirksamen demokratischen Kontrolle unterliege, weil das EP außen vor bleibe und auch die nationalen Parlamente nur beschränkt eingebunden würden. In dieselbe Richtung zielt Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er sieht "Defizite in der demokratischen Legitimation" der EU-Krisenpolitik. In einer Studie kritisiert er vor allem die unzulängliche Transparenz der Entscheidungsprozesse - vieles machten die Staats- und Regierungschefs auf Gipfeln unter sich aus - sowie die Tatsache, dass nicht klar sei, bei wem die politische Verantwortung für diese Schritte liege.
Das Vorgehen von Kommission und Rat verändere die Balance in der EU, sagt Ondarza. Es führe zu einer "sehr viel stärkeren Dominanz der Exekutive, während das Europäische Parlament an den Rand geschoben wurde". Dass das Parlament, sonst schnell zur Stelle mit Klagen über eine Benachteiligung, bisher kaum dagegen protestiert, liege an einem "permissiven Konsens". Schließlich würden "Projekte mit mehr europäischer Zusammenarbeit und neuen europäischen Instrumenten" geschaffen, die das EP selbst wolle.
Die lauter werdende Diskussion über Artikel 122 zeigt ein tieferes Problem an: Es ächzt und kracht im institutionellen Gebälk der EU. "Wir operieren längst am äußeren Limit dessen, was die Verträge zulassen, und gehen teilweise schon darüber hinaus", sagte der italienische Jurist Alberto Alemanno jüngst auf einer Konferenz in Florenz zur Lage der EU. "Es gibt eine zunehmende Spannung zwischen dem, was die Staats- und Regierungschefs und die Kommission tatsächlich machen und dem, was sie eigentlich machen dürfen."
Jüngstes Beispiel sind die Vorschläge der Kommission, wie die Rüstungsproduktion der EU ausgeweitet werden könne, um der Ukraine zu helfen. 500 Millionen Euro aus dem EU-Haushalt sollen dafür fließen. Und es soll sogar möglich werden, EU-Zuschüsse, die eigentlich dazu gedacht sind, die wirtschaftlichen Schäden der Covid-Pandemie abzufedern oder zivile Infrastrukturprojekte zu bezahlen, für diesen Zweck einzusetzen. Zwar ist diesmal nicht Artikel 122 im Spiel, sondern Artikel 41,2 des EU-Vertrags - der Umgang damit ist allerdings genauso diskussionswürdig: Der Artikel hält fest, dass "Ausgaben aufgrund von Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen" nicht aus dem EU-Budget finanziert werden.
Die EU sollte ihre Handlungsfähigkeit besser auf reguläre, demokratische Weise sicherstellen
Höchste Zeit also, könnte man meinen, das politische System der EU der Realität anzupassen. Denn in dieser Realität muss sich die EU in einer wieder kompetitiver werdenden Staatenwelt behaupten. Statt immer häufiger auf Krisenbefugnisse und Sonderfonds auszuweichen und damit Politik "durch die Hintertür" zu machen, wäre es besser, weil demokratischer, wenn die EU ihre Handlungsfähigkeit auf "reguläre" Weise sicherstellte. Etwa durch den Abbau nationaler Vetorechte, wie ihn Bundeskanzler Olaf Scholz soeben wieder gefordert hat.
Oder wenigstens, wie Ondarza vorschlägt, durch eine genauere Definition des Krisenfalls: Wer ruft ihn aus, welche zusätzlichen Kompetenzen erhalten die EU-Institutionen, wie wird das Parlament beteiligt? Und: Wann ist er wieder vorbei?
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Dafür müssten allerdings die Verträge geändert werden. Und das ist ein Tabu geworden in Europa. Zu tief sitzt noch das Trauma des in zwei nationalen Volksabstimmungen gescheiterten Verfassungsvertrags, als dass man sich diesen Prozess schon wieder antun will. Zu groß ist zudem der Widerstand EU-skeptischer Regierungen. Auch deshalb lief die Konferenz zur Zukunft Europas, die bis 2021/22 Vorschläge zur Fortentwicklung der EU erarbeitet hat, mehr oder weniger ins Leere. Das grundsätzliche Problem scheint vorerst unlösbar zu sein: dass man das Ende der Einstimmigkeit einstimmig beschließen muss. Von einer "Petrifizierung", einer Versteinerung der Verträge, reden Experten deshalb.
Wie könnte es doch gelingen, dem EU-System ein Update zu verpassen? Manche setzen auf ein Kerneuropa, in dem einige EU-Staaten unter Abgabe weiterer Souveränität noch enger zusammenarbeiten. Kanzler Scholz lehnt diese faktische Trennung Europas ab, wie schon seine Vorgängerin Angela Merkel. Es bleibt wohl nur die Hoffnung, dass es im Zuge der nächsten großen Erweiterungsrunde der EU ein Einsehen bei allen Beteiligten geben wird, dass es so nicht weitergehen kann. Das wäre vermutlich frühestens von 2030 an.