Süddeutsche Zeitung

EU-Gipfel:Führt Timmermans die Kommission - oder kommt ein Joker?

Lesezeit: 5 min

Von Karoline Meta Beisel, Matthias Kolb und Alexander Mühlauer, Brüssel

Mehr als 17 Stunden, nachdem der EU-Sondergipfel in Brüssel beginnen sollte, haben die 28 Staats- und Regierungschefs nach einem Kompromiss gesucht, um die Top-Jobs in der Europäischen Union zu besetzen. In Brüssel ist die Sonne einmal unter- und einmal aufgegangen, doch eine Lösung gibt es noch immer nicht. Am Mittag wurde der Gipfel vertagt, er soll am Dienstagmorgen um elf Uhr fortgesetzt werden.

Der am Wochenende von Bundeskanzlerin Angela Merkel angedeutete Kompromiss, wonach der sozialdemokratische Spitzenkandidat Frans Timmermans aus den Niederlanden neuer Kommissionschef werden soll, hat bisher keine Mehrheit gefunden. Nach dem Arbeitsfrühstück wurde am Morgen daher über einen neuen Kompromiss debattiert, bei dem die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) besser abschneiden würde.

Timmermans wäre weiterhin der neue Kommissionschef, doch die Bulgarin Kristalina Georgieva würde die Nachfolge von Ratspräsident Donald Tusk antreten - dieses wichtige Amt bliebe der EVP erhalten. Manfred Weber von der CSU würde der neue Parlamentspräsident werden, allerdings nur für eine Halbzeit, die zweite Hälfte ginge an den Liberalen Guy Verhofstadt. Die liberale bisherige Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager würde Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik. Auch hier gilt: Ob es so kommt, ist offen. Leicht wird es nicht, sonst hätte das Treffen nicht unterbrochen werden müssen.

Was ist seit Sonntag passiert? Der Sondergipfel begann erst um 21.24 Uhr, mit mehr als drei Stunden Verspätung. Am Nachmittag hatten sich die Vertreter der Parteienfamilien getroffen. Vor allem in der Europäischen Volkspartei (EVP) gibt es Redebedarf. Anders gesagt: Es gärt, viele sind unzufrieden mit dem Vorschlag, den Merkel mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Spaniens Premier Pedro Sánchez und dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte beim G-20-Gipfel in Osaka ausgehandelt hat. Bei der Ankunft gibt der Ire Leo Varadkar die Meinung vieler in der EVP wieder: "Wir werden das Amt des Kommissionspräsidenten nicht so einfach aufgeben."

Der Vorschlag, der in der Nacht oft als "Sushi-Deal" bezeichnet wird, sieht vor, dass das Amt des Kommissionspräsidenten an die Sozialdemokraten gehen soll. Zuvor hatte sich abgezeichnet, dass EVP-Spitzenkandidat Weber im Kreis der Staats- und Regierungschefs keine Mehrheit bekommen würde.

Im Gegenzug sollte die EVP das Amt des EU-Außenbeauftragten und des Europaparlamentspräsidenten bekommen; für diesen Posten wäre Weber vorgesehen. Die Liberalen sollten nach der Osaka-Lösung den Ratspräsidenten stellen, also den Nachfolger von Donald Tusk. Schon am Samstag war der Plan von den Staaten der Visegrád-Gruppe - Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei - kritisiert worden. Sie lehnen Timmermans ab, weil der Niederländer als Vizepräsident der EU-Kommission für die Rechtsstaatsverfahren gegen Polen und Ungarn zuständig ist. Italien schwankt - und es ist schwer vorstellbar, einen Kommissionschef gegen zwei große Mitgliedstaaten durchzudrücken.

Eine zentrale Figur ist EU-Ratspräsident Donald Tusk, der als Vermittler fungiert und Differenzen überbrücken soll. Als die 28 in der Diskussion nicht weiterkommen, beginnt vor Mitternacht das "Beichtstuhlverfahren": Tusk redet nacheinander mit den Staats- und Regierungschefs, um deren "rote Linien" auszuloten und Kompromisse zu finden. Fünf Minuten soll das eigentlich dauern, bei wichtigen Akteuren wie Macron wird eine Viertelstunde daraus. Parallel finden "bilats" statt, also Einzelgespräche der Regierungschefs. Merkel, Macron, Rutte und Sánchez kommen mehrmals zusammen, mit Tusk und ohne.

Weil hier keine Berater oder gar Sprecher dabei sind, sind die Informationen, die nach außen sickern, einerseits begrenzt. Andererseits wird mit ihnen stets ein Ziel verfolgt, sie sollen die Debatte beeinflussen. Wenn die Christdemokraten von der EVP den viel einflussreicheren Posten des Ratspräsidenten bekämen und die Liberalen dafür die Nachfolge der Außenbeauftragten Federica Mogherini - wäre dies der Schlüssel zur Einigung?

An Gerüchten dringt heraus, dass die Spanier sauer auf den Iren Leo Varadkar sein sollen, weil er gegen Timmermans als Kommissionspräsidenten stänkere. Tusk teste Namen anderer Kompromisskandidaten. Angeblich sind neben der liberalen Spitzenkandidatin Margrethe Vestager die Bulgarin Kristalina Georgiewa, Brexit-Chefverhandler Michel Barnier und der Ire Varadkar im Gespräch (alle drei gehören Parteien der EVP-Familie an). In den Gesprächen gehe es auch immer wieder um den frei werdenden Chefposten bei der Europäischen Zentralbank und die Vergabe von Vizeposten in der neuen Kommission, doch immerhin heißt es: Entschieden ist nichts.

In der Nacht macht ein Video die Runde. Bulgariens Ministerpräsident Bojko Borissow, dessen Gerb-Partei zur EVP gehört, hat nach Mitternacht das Europa-Gebäude verlassen und trifft Timmermans in der bulgarischen Vertretung. Zu sehen ist, wie der Bulgare auf Timmermans einredet, bevor der niederländische Ex-Außenminister in recht allgemeinen Sätzen Borissow für dessen Kampf gegen die organisierte Kriminalität lobt (Bulgarien ist laut Transparency International aber auch das korrupteste Land der EU). Dann merkt Timmermans, dass er gefilmt wird und sagt: "Ich bin mir nicht sicher, ob wir das hier aufzeichnen sollten."

Gegen vier Uhr morgens tritt das Plenum wieder zusammen, doch Tusk kann keine für alle akzeptable Lösung präsentieren. Die Herausforderungen bleiben gleich: Neben der Parteizugehörigkeit sind Geschlecht und regionale Herkunft zu beachten. Also müssen Süd- und Osteuropäer vertreten sein, und nicht nur Macron betont immer wieder, dass mindestens zwei Frauen Top-Posten erhalten müssen. Zudem muss der nächste Kommissionschef auch vom Europaparlament gewählt werden, und dort besteht man darauf, dass auf Jean-Claude Juncker einer der Spitzenkandidaten folgt (und für Merkel und die EVP ist Vestager keine "echte" Spitzenkandidatin, da sie ihre Ambitionen erst nach der Wahl bekannt gab).

Daneben gibt es andere Regeln: So kann nach übereinstimmender Sicht nur jemand Nachfolger von Donald Tusk als Ratspräsident werden, der selbst an Sitzungen des Gremiums teilgenommen hat. Dies bedeute, dass die populäre estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid keine Chancen hat, da ihr Land durch den Premier vertreten wird; hingegen könnte theoretisch die dänische Sozialdemokratin Helle Thorning-Schmidt zum Zug kommen.

Weil in der Reihe der 28 nichts vorangeht, beginnt die nächste Runde im Beichtstuhlverfahren sowie diverse andere Treffen, auch wieder im "Osaka-Format": Merkel, Macron, Rutte, Sánchez und Tusk. Für alle in der Gruppe, so der Eindruck im Pressezentrum, ist dieser Dauergipfel eine Blamage - oft ist auch vom "Merkel-Deal" die Rede, der ausgerechnet in der eigenen EVP zumindest lange Zeit nicht mehrheitsfähig war.

Während Tusk weiter nach Lösungen sucht, geht draußen die Sonne auf. Um sieben Uhr, also zu jener Zeit, als sich die EU-28 erneut treffen sollten, taucht plötzlich ein Regierungschef im Pressesaal auf - und ist sofort von Dutzenden Reportern umringt. Es ist Giuseppe Conte, der Italiens Populisten-Regierung aus Fünf-Sterne-Bewegung und rechter Lega vertritt. Er dämpft die Erwartungen auf eine schnelle Lösung und sagt, dass neben dem Spitzenkandidaten-Prinzip auch die regionale Balance wichtig ist.

Unterdessen wird deutlich, dass diese Nacht auch in Berlin zu erhitzten Diskussionen führt. Im "Morgenmagazin" von ARD und ZDF tritt EU-Kommissar Günther Oettinger auf und sagt, dass er die Vorbehalte gegen Timmermans verstehen könne: die Christdemokraten hätten schließlich die Europawahl gewonnen. Es stimmt: Trotz Verlusten ist die EVP weiterhin die größte Fraktion im Europaparlament, das morgen zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommt. Unverständnis signalisiert auch CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak und kritisiert damit natürlich vor allem die Kanzlerin.

Um acht Uhr morgens, mit einer Stunde Verspätung, beginnt das Arbeitsfrühstück der Staats- und Regierungschefs. Mittags dann der Abbruch. Wer welchen Posten bekommt, ist weiterhin offen. Der Wunsch, Brüssel mit einem Ergebnis zu verlassen, sei groß unter den Staats- und Regierungschefs, heißt es immer wieder. Nun müssen sie nachsitzen.

Sollte auch am Dienstag keine Lösung gelingen, steht immerhin schon fest, wann der nächste Sondergipfel stattfinden könnte: am Montag, den 15. Juli. In den Tagen danach ist die Abstimmung über die Nachfolge von Kommissionschef Jean-Claude Juncker im Europaparlament vorgesehen.

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