Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Verhärtete Fronten in Brüssel

  • Nach der Europawahl zeichnet sich im EU-Parlament bei der Suche nach einem neuen Kommissionspräsidenten noch immer keine Mehrheit ab.
  • Auch die Gruppe der Staats- und Regierungschefs ist gespalten. Es gibt deutlichen Widerstand gegen EVP-Mann Weber.
  • Kanzlerin Merkel kämpft für den Niederbayern, auch wenn sie vom Spitzenkandidaten-System nicht überzeugt ist.

Von Alexander Mühlauer, Brüssel

Bis Mittwochabend will Manfred Weber zeigen, was er kann. Am Tag vor dem EU-Gipfel möchte der CSU-Mann ein parteiübergreifendes Arbeitsprogramm für die nächste Europäische Kommission vorlegen, an deren Spitze er gerne stehen würde. Doch wie es aussieht, wird daraus nichts. Das liegt weniger daran, dass sich die Fraktionsvorsitzenden von Christ- und Sozialdemokraten, von Liberalen und Grünen nicht auf Inhalte einigen könnten. Da gäbe es trotz aller Unterschiede durchaus Schnittmengen. Das Problem ist vielmehr, dass Weber mit dem Programm einen Machtanspruch verknüpfen will, den die anderen - mit Ausnahme der Grünen - nicht akzeptieren wollen.

Der CSU-Mann besteht darauf, dass die stärkste Fraktion den Anspruch auf das Amt des EU-Kommissionspräsidenten erheben darf. Und das wäre, trotz Verlusten bei der Europawahl, noch immer die EVP mit ihrem Spitzenkandidaten Weber. Gegen diesen Automatismus wehren sich aber bislang die Sozialdemokraten und Liberalen, die ihrerseits eigene Kandidaten für die Nachfolge von Kommissionschef Jean-Claude Juncker im Rennen haben: Frans Timmermans und Margrethe Vestager. Gut drei Wochen nach der Europawahl ist keiner von ihnen bereit, die eigenen Ambitionen zugunsten von Weber fallen zu lassen.

Es gibt also bislang keine Mehrheit für niemanden. Weder im Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, das den Kandidaten gemäß EU-Vertrag vorschlägt; noch im Europäischen Parlament, das den Kommissionspräsidenten am Ende wählt. Die Lage ist verzwickt. Am Donnerstag kommen die Chefs, wie man sie in Brüssel nennt, zum Gipfeltreffen zusammen. Auch in ihrem Kreis sind die Fronten verhärtet. Etwa zehn Staats- und Regierungschefs haben sich mehr oder weniger offen gegen Weber positioniert. Die Gruppe wird angeführt von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der zusammen mit den liberalen Ministerpräsidenten der Benelux-Staaten die Vorherrschaft der EVP brechen will.

Ohne die EVP geht nichts

Doch so einfach ist das nicht, denn gegen den Willen der Europäischen Volkspartei kann kein Kandidat vorgeschlagen werden; die EVP hat im Europäischen Rat eine Sperrminorität. Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre EVP-Kollegen stehen bisher hinter ihrem Spitzenkandidaten. EU-Diplomaten zufolge dürfte Merkel beim Gipfeltreffen ausloten, inwieweit Weber als möglicher Kommissionspräsident vermittelbar ist - oder ob es schlicht keine Mehrheit für ihn gibt. Will die Kanzlerin Weber durchsetzen, muss sie vor allem Macron und den neuen starken Mann unter den Sozialdemokraten, Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez, von einem Personalpaket überzeugen, das für alle akzeptabel ist.

Schließlich gilt es, nicht nur die Juncker-Nachfolge zu regeln. Gesucht werden auch neue Präsidenten für den Europäischen Rat, das EU-Parlament und die Europäische Zentralbank. Hinzu kommt noch der Job des EU-Außenbeauftragten. Diese werden nach der in Brüssel üblichen Machtarithmetik vergeben: Geschlecht, Parteibuch, Herkunft müssen bei der Verteilung der Ämter gleichermaßen berücksichtigt werden.

Der Entscheidungsdruck steigt, denn bereits am 2. Juli wird das Europäische Parlament einen neuen Präsidenten wählen. Gibt es bis dahin keine Einigung über die Juncker-Nachfolge, läge damit das erste Teil des Personal-Puzzles auf dem Tisch. Je nachdem, welcher Parteienfamilie der neue Präsident angehört, hat das Auswirkungen auf die Besetzung der anderen Posten. Da es mit ziemlicher Sicherheit wieder zwei Parlamentspräsidenten geben wird, die sich die Amtszeit aufteilen, könnten erstmals die Grünen zum Zug kommen. Deren Fraktionsvorsitzende, die Deutsche Ska Keller, hat jedenfalls Grund, sich Hoffnungen zu machen.

Auch der bisherige Fraktionsvorsitzende der Liberalen, Guy Verhofstadt, liebäugelt mit dem Job. Sollte der frühere belgische Premier tatsächlich gewählt werden, hätten Macron & Co ein Problem: Mehr als einen Top-Posten werden die Liberalen wohl nicht bekommen. Kein Wunder also, dass vor allem Macron und die Benelux-Premiers ein Interesse daran haben, die Frage des Kommissionschefs vor der Wahl des neuen Parlamentsvorstehers zu klären. Keiner von ihnen will sich der Gefahr aussetzen, von Verhofstadt vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden.

Geht es nach der EVP, können die anderen Parteienfamilien ruhig die übrigen Jobs unter sich aufteilen - solange die Europäische Volkspartei den Kommissionschef stellt. Für Merkel bedeutet dies, dass sie weiter für Weber kämpfen muss, auch wenn sie vom Spitzenkandidaten-System nicht überzeugt ist. EU-Diplomaten sind sich einig: Gelingt es der Kanzlerin nicht, den Widerstand gegen Weber zu brechen, muss sie eine gesichtswahrende Lösung für sich finden. Sprich: Merkel darf am Scheitern Webers nicht schuld sein. "Es muss so aussehen, als habe die Kanzlerin bis zum Schluss für ihren Landsmann gekämpft", heißt es in Brüssel.

Wäre Weber aus dem Rennen, hätte sich für Merkel auch ein anderes Problem erledigt: Bislang stellt sich ihr Koalitionspartner gegen den CSU-Mann. Die SPD, bekräftigte Europastaatsminister Michael Roth am Dienstag, halte an dem Sozialdemokraten Timmermans fest.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4491919
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.06.2019/saul
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.