EU-Kommission:Von der Leyens Planetensystem

Lesezeit: 4 Min.

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen begrüßt am Dienstag in Straßburg Roberta Metsola, Präsidentin des Europaparlaments. (Foto: Johanna Geron/REUTERS)

Die Kommissionspräsidentin stellt ihre neue Regierung vor. Sie ist deutlich konservativer als die alte – und dürfte der Chefin wohl auch seltener widersprechen. Ein wichtiges Ziel hat die Deutsche allerdings verfehlt.

Von Hubert Wetzel, Straßburg

Im zweiten Anlauf hat Ursula von der Leyen es geschafft. Eigentlich wollte die EU-Kommissionspräsidentin ihr neues „Kollegium“ – jene 26 Frauen und Männer, die von den Regierungen der Mitgliedsländer entsandt werden und die Regierungsmannschaft der Union bilden – bereits am vergangenen Mittwoch in Brüssel vorstellen. Doch der Termin und der Ort mussten wegen allerlei Querelen, die kurz vor Torschluss noch auftauchten, verschoben werden. Und so präsentierte die Deutsche ihre Kommissare und Kommissarinnen an diesem Dienstag in Straßburg dem Europaparlament, das die Kandidaten nun anhören und dann über sie abstimmen wird. Sie habe, so versprach die Deutsche, eine Kommission zusammengestellt, „deren einziger Leitstern das Interesse Europas ist“.

Die offizielle Begründung für die Verzögerung lautete, es müssten noch einige Komplikationen bezüglich der slowenischen Vertreterin in der Kommission ausgeräumt werden. Das war zwar nicht falsch, aber wohl auch nur die halbe Wahrheit. Denn tatsächlich verhandelte von der Leyen offenbar bis zuletzt mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron darüber, wen dieser in die Kommission entsenden möchte und welche Aufgaben und Befugnisse der Kandidat bekommen soll – eine ungleich wichtigere Personalie als die slowenische.

Zwar hatte Macron den amtierenden französischen Kommissar Thierry Breton bereits für eine zweite Amtszeit nominiert. Doch in Brüssel wurde vermutet, dass Breton für Macron lediglich eine Art Platzhalter sei. Von der Leyen ließ den französischen Präsidenten daher wissen, dass er sehr gerne auch einen anderen Kandidaten schicken könne.

Sie werde die Zügel straff in der Hand halten, sagen Beobachter

Das Ergebnis dieser Gespräche rüttelte die Brüsseler Politikblase am Montag kräftig durch: Von der Leyen und Macron sägten Breton kurzerhand ab – eine Demütigung, die dieser auch gleich in einem erbosten Rücktrittsbrief der Weltöffentlichkeit, oder zumindest dem bei X mitlesenden Teil, verkündete.

Das war, wie es allenthalben in Brüssel hieß, ein „beispielloser“ Vorgang. Er klärte aber auch die Luft. Frankreich, eines der wichtigsten EU-Länder, soll nun in der neuen Kommission von dem früheren Europaabgeordneten und heutigen Außenminister Stéphane Séjourné vertreten werden. Er soll als „Exekutiv-Vizepräsident“ für die Industriepolitik in der EU zuständig sein – genauer: für die Rettung Europas als wettbewerbsfähiger Industriestandort – und hat ganz offensichtlich das Vertrauen Macrons, von dem er politisch abhängig ist, sowie den Segen von der Leyens. Im Fall des sehr selbstbewussten Breton war das anders, er lag oft über Kreuz mit der Kommissionspräsidentin.

An diesem Personalwechsel lässt sich ein Merkmal der neuen Kommission ablesen: Dem Gremium werden künftig weniger starke, eigensinnige, politisch gewichtige Personen angehören, die von der Leyen widersprechen können, eine eigene Hausmacht haben und eigene Ideen vorantreiben. Breton fiel in diese Gruppe, ebenso die dänische Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager oder der niederländische Klimakommissar Frans Timmermans, der schon vor längerer Zeit zurückgetreten ist. Politiker dieses Kalibers gibt es in der neuen Kommission nicht, von der Leyen werde die Zügel straff in der Hand halten, sagen Beobachter. Der Grünen-Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky spricht von einer „Sonnensystem-Kommission“. Wer die Sonne ist, wer die Planeten sind, dürfte klar sein.

Klimaschutz soll wichtig bleiben, aber nicht die Industrie ruinieren

Ein zweites Merkmal der neuen Kommission: Das Gremium ist konservativer geworden – eine Folge des allgemeinen Rechtsrucks in Europa, der in vielen Ländern konservativere Regierungen ins Amt gebracht hat, die wiederum konservativere Kommissarskandidaten benannt haben. 14 der 27 Kommissare gehören der gemäßigt-rechten Europäischen Volkspartei an. Der italienische Kommissar Raffaele Fitto, der ein wichtiges wirtschafts- und finanzpolitisches Portfolio und ebenso den Titel eines Exekutiv-Vizepräsidenten bekommen hat, ist Mitglied der postfaschistischen Fratelli d’Italia, die im Europaparlament Teil der rechtskonservativen EKR-Fraktion sind.

Zu diesem Personaltableau passt, dass der Schwerpunkt der Arbeit der Kommission sich in den kommenden Jahren auf Felder verschieben soll, die klassischerweise den Konservativen zugerechnet werden. Klimaschutz soll wichtig bleiben, aber so gestaltet werden, dass er die europäische Industrie möglichst nicht ruiniert. Beim Umweltschutz dürften die Interessen der Agrarwirtschaft oder auch der Autokonzerne wieder eine größere Rolle spielen. „Wettbewerbsfähigkeit“ ist das politische Schlagwort der Stunde in Brüssel, zusammen mit „Sicherheit“, innerer wie äußerer, wozu auch der Umgang mit Flüchtlingen gehört. Und auf die meisten Dossiers, die damit zusammenhängen, hat sich die EVP den Zugriff gesichert: Wirtschaft, Landwirtschaft, Migration, Verteidigung, Klima.

Eine dritte Besonderheit der neuen Kommission ist die politische Aufwertung Osteuropas. Zwar musste sich die deutsche Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den machtpolitischen Realitäten beugen und auch jedem der anderen großen EU-Länder einen der begehrten Vizepräsidenten-Posten in der Kommission geben: Frankreich erhält einen, ebenso Italien und Spanien. Die spanische Umweltministerin Teresa Ribera wird in der Kommission als Vizepräsidentin für Wettbewerb und den klimaneutralen Umbau der Industrie zuständig sein.

Ost- und Mitteleuropäer erhalten einflussreiche Ressorts, nur Ungarn nicht

Aber etliche ost- und mitteleuropäische Staaten bedachte von der Leyen mit einflussreichen Portfolios, die noch vor wenigen Jahren an ein westeuropäisches Land gegangen wären: Polens derzeitiger EU-Botschafter Piotr Serafin wird neuer Haushaltskommissar. Die frühere estnische Regierungschefin Kaja Kallas wird neue Außenbeauftragte der EU und Vizepräsidentin der Kommission. Die Rumänin Roxana Mînzatu wird als Exekutiv-Vizepräsidentin für den Arbeitsmarkt und Soziales zuständig sein. Die Slowenin Marta Kos soll das Dossier Erweiterung übernehmen, die Kroatin Dubravka Šuica das neue Amt der für die Mittelmeer-Region zuständigen Kommissarin.

Auch der ebenfalls neu geschaffene Posten des Kommissars für Verteidigung geht nach Osteuropa – an den Litauer Andrius Kubilius. Er wird eng mit der Finnin Henna Virkkunen zusammenarbeiten, die als Exekutiv-Vizepräsidentin in der Kommission für Sicherheit und Demokratie zuständig sein soll. Für die Ukraine ist das baltisch-nordische Trio Kallas/Kubilius/Virkkunen eine gute Nachricht, für den Kreml hingegen eher eine schlechte. Estland, Litauen und Finnland führen in der EU das Lager der Falken an, die einen kompromisslosen Kurs gegen Moskau vertreten und fordern, dass sich Europa auf eine militärische Auseinandersetzung mit Russland vorbereiten müsse.

Ein belustigtes Glucksen ging am Dienstag dagegen durch den Pressesaal, als von der Leyen das Portfolio von Kommissar Olivér Várhelyi bekanntgab. Früher war der Ungar für die EU-Erweiterung zuständig, vor allem also für die Vorbereitung der Ukraine auf einen Beitritt. Da der ungarische Premierminister Viktor Orbán sich aber bei jeder Gelegenheit an Russland anbiedert und ständig bei der Unterstützung der Ukraine querschießt, bestrafte die Kommissionschefin Budapest mit einer Degradierung: Várhelyi kümmert sich künftig um Gesundheit und – hihi – Tierschutz.

Lediglich ein wichtiges, selbst gestecktes Ziel hat von der Leyen nicht erreicht. Der Frauenanteil in der neuen Kommission liegt nicht bei 50 Prozent, wie sie es von den Regierungen gefordert hatte. Immerhin, so sagte sie am Dienstag, sei es gelungen, die Zahl der vorgeschlagenen Kommissarinnen in „intensiven Verhandlungen“ von zunächst sechs auf elf zu steigern – 40 Prozent. Daran zeige sich, dass „noch viel zu tun“ bleibe.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusMeinungEU-Kommission
:Ursula von der Leyen sollte das ambivalente Auftreten Melonis nicht länger belohnen

Kommentar von Ulrike Sauer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: