Die Chefin der Liberalen im Europäischen Parlament musste in den vergangenen Wochen viele Rollen übernehmen, bis sie am Mittwochabend die einer Gewinnerin spielen konnte. Valérie Hayer saß an Verhandlungstischen und gleichzeitig zwischen den Stühlen. Sie erlebte, wie sich Sozialisten und Christdemokraten im Streit um die Ernennung künftiger EU-Kommissare verhakten, und versuchte, so gut es ging zu moderieren. Bis sich die Spitzen der drei Fraktionen am Mittwochnachmittag auf ein gemeinsames Papier einigten – auf eine lose Koalitionsvereinbarung, die einen Kompromiss möglich machte: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird nun aller Voraussicht nach am 1. Dezember mit neuem Team ihre zweite Amtszeit antreten.
Ob sie diesen Zeitplan würde einhalten können, stand bis zuletzt infrage. Die von den Mitgliedstaaten nach Brüssel entsandten Kommissarinnen und Kommissare brauchen den Segen des Parlaments: Erst jede und jeder einzeln im zuständigen Ausschuss, am Ende stimmt das Plenum über das ganze Personaltableau ab. In diesem komplizierten Verfahren hatten sich die politischen Gruppen im Parlament scheinbar heillos zerstritten.
In den Anhörungen ging es kaum um die Kompetenz der künftigen Kommissare
Ein Blick hinter die Kulissen dieses Streits belegt, wie wackelig die Zusammenarbeit von Konservativen, Sozialisten und Liberalen künftig sein wird. Sie hatten von der Leyen gemeinsam ins Amt gewählt und wurden damit inoffiziell zu deren Mehrheitsgarant im Parlament. „Eigentlich ist dieser Prozess dazu da, die Kompetenzen designierter Kommissarinnen und Kommissare zu bewerten“, sagt Hayer über die Anhörungen. „Nationale politische Spielchen haben das konterkariert. Das müssen wir beim nächsten Mal verhindern.“
Zufrieden war die Vertraute des französischen Präsidenten Emmanuel Macron dennoch. Die Liberalen schrumpften mit der Europawahl zwar im Parlament zur fünftgrößten Fraktion. In die Kommission entsenden sie aber dank der nationalen Wahlerfolge fünf Vertreter und damit mehr als die Sozialdemokraten. An der Spitze steht die Außenbeauftragte Kaja Kallas.
Am Ende schien es tatsächlich nur noch darum zu gehen: dass alle Parteienfamilien ihre Leute durchbringen. Sozialdemokraten, Grüne und Linke kämpften dagegen, dass mit Raffaele Fitto ein Vertreter der postfaschistischen Fratelli d’Italia zum Vizepräsidenten der Kommission ernannt wird. Die Christdemokraten und Nationalkonservativen nahmen im Gegenzug die sozialistische Umweltministerin Spaniens, Teresa Ribera, als Geisel. Ribera soll erste Stellvertreterin von der Leyens werden und unter anderem die bei den Konservativen umstrittene Klima- und Umweltpolitik der EU lenken. Erst, als sich von der Leyen wieder in die Gespräche eingemischt hatte und das Koalitionspapier beschlossen war, gelang der Durchbruch. In dem Papier bekennen sich die drei Partner-Fraktionen zum politischen Programm der Kommissionschefin.
Dass EVP-Chef Weber gemäßigt rechte Kräfte einbinden will, missfällt vielen
Die Europäische Volkspartei (EVP) wehrte sich gegen Vorwürfe von Sozialdemokraten und Grünen, sie paktiere mit der politischen Rechten in Europa. „Es war ein trauriges Schauspiel, die rein politische Ablehnung von zwei fachlich soliden Kandidaten als Rettungsmission der Demokratie zu verklären“, schrieben in einer gemeinsamen Erklärung Daniel Caspary (CDU) und Angelika Niebler (CSU) im Namen der deutschen EVP-Abgeordneten.
Das linke Lager hatte neben Vizepräsident Fitto zunächst auch den Ungarn Olivér Varhelyi als Gesundheitskommissar abgelehnt. Als Kompromiss wurde ihm ein Teil seiner Kompetenzen entzogen. Wäre Várhelyi gescheitert, hätte Ministerpräsident Viktor Orbán einen anderen Kandidaten nominieren müssen.
EVP-Chef Manfred Weber begründet seine Unterstützung für Fitto damit, die gemäßigten rechten Kräfte in der EU einbinden zu wollen. Außerdem müsse Italien als großes EU-Land in der Kommission angemessen berücksichtigt werden und verdiene einen Vize-Posten – genau wie Frankreich oder Spanien. Fitto, ursprünglich Christdemokrat, verfügt über große Erfahrung als EU-Politiker und genießt in Italien über Parteigrenzen hinweg Respekt.
Die Fraktionsführungen von EVP und Sozialdemokraten müssen nun dafür sorgen, dass ihr Personalpaket nächste Woche im Plenum die erforderliche einfache Mehrheit erhält. Viele Sozialdemokraten fühlen sich von der EVP erpresst; vor allem unter den deutschen und französischen Abgeordneten regt sich Widerstand. Der Zorn richtet sich gegen EVP-Chef Weber, der zuletzt im Parlament mehrmals mit rechten Mehrheiten gearbeitet hatte und jetzt Fitto durchboxte.
Viel Unmut gibt es auch in den Reihen der Grünen, die von der Leyen im Juli mitgewählt hatten und bei den Verhandlungen außen vor blieben. Sie dürften sich in Straßburg mindestens enthalten. „Wir werden als Abgeordnete unserer Pflicht nachkommen und die Arbeit von Raffaele Fitto, Várhelyi und der gesamten Kommission in den nächsten fünf Jahren kritisch überwachen“, sagte Co-Fraktionschefin Terry Reintke. Die anderen Parteigruppen hätten eine „klare Abgrenzung von der extremen Rechten“ vermieden, bemängelte sie.