Vier Monate sind seit den Europawahlen vergangen, Europa und die Welt werden von allen möglichen Krisen erschüttert – und die Europäische Union hat immer noch keine neue Führung. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen präsentierte ihre 26 designierten Kommissarinnen und Kommissare Mitte September, aber sein Amt antreten kann das neue Kollegium erst im Dezember. Frühestens.
Ende November soll das Europaparlament über die gesamte Kommission abstimmen. Zuvor müssen sich die Kandidatinnen und Kandidaten einer Anhörung vor dem für ihr Fachgebiet zuständigen Parlamentsausschuss stellen. Derzeit ist der Rechtsausschuss des Parlaments dabei, die Vermögenserklärungen der 26 zu überprüfen. Zweck der Übung ist es, mögliche Interessenkonflikte aufzudecken. Im ersten Anlauf wurden allerdings nur drei als unbedenklich eingestuft. Die anderen müssen nun Nachfragen beantworten.
Ausgerechnet Viktor Orbáns Mann, Olivér Varhélyi, zählt neben dem Niederländer Wopke Hoekstra und dem Polen Piotr Serafin zu den problemlosen Fällen. Der alte und mutmaßlich neue EU-Kommissar Varhélyi wollte wohl beweisen, dass das viel geschmähte Ungarn Viktor Orbáns ein Hort der Transparenz ist. Vielleicht hat er sich aber auch nur einen Spaß erlaubt, als er unter seinen „Assets“ einen BMW 320i anführte, Baujahr 1992, geschätzter Wert 11 000 Euro. Auf die Idee, dass sein alter BMW ihn bei seiner neuen Tätigkeit als Kommissar für Gesundheit und Tierwohl in einen Interessenkonflikt bringt, kommt wohl niemand.
Einige Kandidaten gaben fast leere Blätter ab
Im Prinzip sollten in der Erklärung alle Vermögenswerte über 10 000 Euro benannt werden, einige Kommissarskandidaten gaben trotzdem mehr oder weniger leere Blätter ab. Sie verwiesen darauf, ihr Vermögen gebe keinen Anlass für mögliche Interessenkonflikte. Zu denen gehört überraschend auch der Franzose Stéphane Séjourné, Emmanuel Macrons Vertrauter. In seinen Jahren als Europaparlamentarier hatte er noch schärfere Transparenzregeln gefordert.
Daniel Freund, der grüne Korruptionsexperte im Europaparlament, bezeichnet das Prüfverfahren als dringend reformbedürftig. Die EU müsse für ihre Führungsleute unabhängige externe Prüfinstanzen beauftragen, wie dies in Frankreich und den USA der Fall sei. Solange der Prüfung unklare Kriterien zugrunde lägen und sie im Parlament angesiedelt sei, werde sie „politisiert“. Was er meint: Politische Gruppen versuchen, Kandidatinnen und Kandidaten aus anderen Lagern zu diskreditieren. Am Ende schade das Prozedere dem Ruf der ganzen EU, sagt Freund.
Vor fünf Jahren wurden drei designierte Kommissarinnen und Kommissare vom Parlament abgelehnt. Es gab in jedem einzelnen Fall gute Gründe dafür, am Ende entstand aber der Eindruck, man sei nach dem Prinzip Wie-du-mir-so-ich dir verfahren: Erst erwischte es einen Kandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP), dann eine Sozialdemokratin, schließlich eine Liberale.
Die Europäische Volkspartei dominiert die neue Kommission
Durch den Rechtsruck in Europa ist die Stimmung im Europaparlament noch hitziger geworden. Die EVP hat die Europawahlen klar gewonnen, deshalb erhielt Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit. Zudem führt die EVP so viele nationale Regierungen an, dass sie 14 von 27 Kommissarinnen und Kommissaren nach Brüssel schicken kann. Das mag den Reiz bei der Konkurrenz erhöhen, nach Schwachstellen zu suchen.
Weil als geheim eingestufte Dokumente natürlich nicht geheim blieben, sorgt nun vor allem der Reichtum des konservativen griechischen Kommissarskandidaten Apostolos Tzitzikostas für Gesprächsstoff in Brüssel. Der einer wohlhabenden Familie entstammende Grieche wies jede Menge Wohnungen und Ländereien aus – das allerdings mit erstaunlicher Liebe zum Detail. Die Liste umfasst auch einen Lagerraum und einen Parkplatz von sieben respektive zwölf Quadratmetern, die ihm jeweils zu 14 Prozent gehören.
Auch die Liberalen bleiben nicht verschont. Die designierte EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas, ein Star der neuen Kommission, soll offenbar Informationen zu den Russlandgeschäften ihres Ehemannes nachliefern. Aber das meiste Interesse richtet sich zweifellos auf Giorgia Melonis Abgesandten Raffaele Fitto.
Fitto, aktuell Melonis Europaminister in Rom, soll in der neuen Kommission den Rang eines geschäftsführenden Vizepräsidenten erhalten, zuständig für Kohäsion und Reformen. Zudem gilt Fitto als Bindeglied zwischen der EVP und der italienischen Regierungschefin. Liberale, Grüne und Sozialdemokraten argwöhnen, EVP-Chef Weber strebe bei heiklen Themen wie der Migration rechte Mehrheiten unter Einschluss von Melonis Fratelli d’Italia an. Deshalb werden sie es darauf anlegen, Fittos Ruf so weit anzukratzen, dass er zumindest seinen Job als Vizepräsident einbüßt. Dass von der Leyen den Vertreter einer postfaschistischen Partei für diese Funktion vorschlage, sei ein Skandal.
Auch Fitto soll nun Nachfragen zur Herkunft seines Vermögens beantworten. Er ist, seiner Erklärung nach zu urteilen, ein wohlhabender Mann. Er führt ein halbes Dutzend Wohnungen an, die ihm gehören, Anteile an einer Apotheke, Fondsanteile. Aber Indizien für Interessenkonflikte lassen sich schwerlich finden. Fitto, jahrelang Europaabgeordneter, gilt in Brüssel als ebenso integer wie fachkundig. Zum Härtetest für ihn dürfte die Anhörung im Parlament werden. Seine politischen Gegner sind schon dabei, belastendes Material zu sammeln.