Den Sommer über hat Ursula von der Leyen unter anderem gelesen. Das weiß man, weil sie bei Facebook ein Bild von sich geteilt hat, wie sie daheim mit einem Buch unter einem Baum sitzt.
Jetzt, da die Ferien vorbei sind, ist von der Leyen damit beschäftigt zu puzzeln – dienstlich allerdings. Seit Anfang September liegen der EU-Kommissionspräsidentin die Namen von knapp 30 Kandidaten und Kandidatinnen vor, aus denen sie sich jene Kommissare und Kommissarinnen aussuchen kann, mit denen sie in den kommenden fünf Jahren die EU leiten will.
Kaja Kallas aus Estland wird Hohe Vertreterin für die Außen- und Sicherheitspolitik
Das klingt simpel. Tatsächlich ist die Zusammenstellung des „Kollegiums“, in dem jedes der 27 EU-Länder mit einer Frau oder einem Mann vertreten ist, ein diffiziler Prozess – ähnlich dem Versuch, eine Waage mit 27 unterschiedlich großen und schweren Schalen irgendwie ins Gleichgewicht zu bringen. Am Ende muss zum einen jedes Mitgliedsland in der Kommission ein Amt bekommen haben, das mindestens seinem politischen Gewicht in der Union entspricht. Zum anderen muss das Personaltableau so aussehen, dass das EU-Parlament ihm seinen Segen geben kann.
Zwei der 27 Ämter sind bereits vergeben: Die Deutsche Ursula von der Leyen bleibt Kommissionspräsidentin. Die Estin Kaja Kallas wird Hohe Vertreterin für die Außen- und Sicherheitspolitik sowie Vizepräsidentin der Kommission. Kallas löst den Spanier Josep Borrell ab; dadurch bekommen die Osteuropäer ein herausgehobenes Amt in Brüssel – ein Zeichen dafür, wie groß ihr Einfluss durch den Krieg in der Ukraine geworden ist.
Absehbar ist auch, dass von der Leyen ihr erklärtes Ziel verfehlen wird, die neue Kommission paritätisch mit Frauen und Männern zu besetzen. Nach jetzigem Stand werden der Kommission zehn oder elf Frauen angehören. Das ist weniger als die Hälfte. Gemessen daran, dass noch vor einigen Tagen nur sieben Frauen für das Kollegium nominiert waren, ist es jedoch ein Fortschritt.
In Brüssel kursieren derzeit allerlei Listen, auf denen angeblich geschrieben steht, welche Person aus welchem Land welches Portfolio in der Kommission übernehmen soll. Wie viel diese Dokumente aussagen, ist offen – aus von der Leyens Umgebung heißt es nur, dass die Dinge im Fluss seien und vieles tatsächlich noch offen sei.
Einige Staaten warnen vor einer finanzpolitischen Schlagseite
Einige Besetzungen diktiert ohnehin die Realität: Die Kandidaten von politisch bedeutenden Mitgliedsländern müssen im Kollegium mit bedeutenden Aufgaben betreut werden. Zudem wird von der Leyen vermutlich eine Handvoll Kommissare zu sogenannten EVPs machen – Exekutiven Vizepräsidenten –, die mehr Macht haben als ihre Kolleginnen und Kollegen.
All das heißt: Es gibt Gezerre zwischen von der Leyen und den EU-Hauptstädten. So sehen einige Regierungen mit Sorge, dass die möglichen Vizepräsidenten, die sich in der Kommission um Wirtschafts- und Finanzthemen kümmern sollen, allesamt aus hoch verschuldeten Ländern stammen, die dafür bekannt sind, Probleme gern mit öffentlichen Geldern zu lösen – das bedeutet auf europäischer Ebene: mit dem Geld anderer EU-Staaten. Diese Regierungen, darunter sehr prominent Frankreich und Italien, sähen gern noch mehr gesamteuropäische Investitionsfonds und mithin gemeinschaftliche Schulden.
Schon bevor das neue Kollegium feststeht, hört man von Diplomaten aus Staaten, die traditionell fiskalpolitisch restriktiv sind, daher Kritik: Das gesamte Konstrukt, so heißt es, habe Schlagseite.
So soll zum Beispiel in Person von Raffaele Fitto, einem Vertrauten der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, ein Italiener als EVP wohl die Verantwortung für das Wirtschaftsportfolio inklusive dem 800 Milliarden Euro schweren Corona-Wiederaufbaufonds übernehmen. Thierry Breton aus Frankreich bleibt Binnenmarkt-Kommissar und würde als künftiger EVP wahrscheinlich auch dem neuen Verteidigungskommissar vorgesetzt sein. Für diesen wiederum hat Breton bereits einen Investitionstopf gefordert, den die Mitgliedsländer mit 100 Milliarden Euro füllen sollen.
Die Investitionen in eine klimaneutrale Zukunft sollen weiterhin fließen
Dutzende Milliarden wird die EU auch weiterhin für den Grünen Deal ausgeben, den angestrebten Umbau der europäischen Wirtschaft zur Klimaneutralität. Als Favoritin für dieses Portfolio galt lange Zeit Teresa Ribera, momentan Spaniens Umweltministerin. Berichten zufolge könnte Ribera aber auch Handelskommissarin werden.
Den wachsenden Einfluss Osteuropas belegt neben Kallas’ Ernennung auch die Personalie Piotr Serafin. Der bisherige EU-Botschafter Warschaus und frühere Stabschef von Polens Regierungschef und Ex-EU-Ratspräsident Donald Tusk gilt als gesetzt für den Posten des Haushaltskommissars. Tusk selbst hat das öffentlich verkündet. Serafin hätte damit die Aufgabe, den EU-Haushalt für die Jahre 2028 bis 2034 auf den Weg zu bringen, worüber die Mitgliedstaaten vom kommenden Jahr an heftig streiten werden.
Zwar vertritt Serafin ein Land, das als Netto-Empfänger hohe Summen aus diesem Haushalt bekommt. Er soll aber dem Vernehmen nach direkt an die Kommissionschefin berichten, die sich damit den unmittelbaren Zugriff auf die Haushaltsverhandlungen sichert. Dementsprechend entspannt ist man in Deutschland, das grob gesagt ein Viertel des EU-Haushalts finanziert.
Serafin wird wohl auch – anders als sein österreichischer Vorgänger Johannes Hahn – kaum zögern, der ungarischen Regierungen wegen Korruption oder Rechtsstaatsverstößen Brüsseler Zuschüsse zu sperren. Seine Ernennung durch Tusk markiert das endgültige Ende der polnisch-ungarischen Allianz in der EU, wie sie zur Zeit der rechtspopulistischen PiS-Regierung in Warschau bestanden hatte.
Apropos Ungarn: Die Neubesetzung der Kommission ist nicht nur eine Gelegenheit, um EU-Länder mit neuer Macht auszustatten, sondern auch, um den Einfluss einiger Regierungen zu beschneiden. So war der ungarische Kommissar Olivér Várhelyi bisher für das enorm wichtige Thema EU-Erweiterung zuständig, also auch dafür, dass die Ukraine für einen Beitritt vorbereitet wird. Das hat wegen der ständigen ungarischen Querschüsse bei der europäischen Ukraine-Politik ein Ende. Auf einer jener besagten Brüsseler Listen mit künftigen Zuständigkeiten steht hinter dem ungarischen Kommissar nun dieser Eintrag: „schwaches Portfolio“.