EU-Kommissionspräsident:Auf der Suche nach kreativen Lösungen

EU-Kommissionspräsident: "Mit neuer Kreativität an die Arbeit": Bundeskanzlerin Angela Merkel am Dienstag bei ihrem Eintreffen im Brüsseler EU-Ratsgebäude.

"Mit neuer Kreativität an die Arbeit": Bundeskanzlerin Angela Merkel am Dienstag bei ihrem Eintreffen im Brüsseler EU-Ratsgebäude.

(Foto: Bertrand Guay/AFP)
  • Noch immer verhandeln die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten in Brüssel über das neue Spitzenpersonal für die Europäische Union.
  • Bundeskanzlerin Merkel forderte alle Beteiligten auf, "mit neuer Kreativität an die Arbeit gehen".
  • Einer dieser kreativen Vorschläge: Bundesverteidigungsministerin von der Leyen könnte EU-Kommissionspräsidentin werden.

Von Karoline Meta Beisel und Matthias Kolb, Brüssel

Ob Xavier Bettel viel geschlafen hat, als er am späten Dienstagvormittag am Europagebäude in Brüssel ankommt, ist offen. Auf alle Fälle hat Luxemburgs Ministerpräsident gute Sprüche für den dritten Tag des EU-Sondergipfels parat. "Dies ist keine Castingshow, es ist nicht 'Europa sucht den Superstar'", sagt Bettel über die schwierige Suche nach dem Spitzenpersonal für die Europäische Union. Der Liberale macht klar, wer für ihn schuld ist am schlechten Bild, das die EU abgibt: Es sind die Christdemokraten von der Europäischen Volkspartei (EVP).

Die EVP habe "einen Softwarefehler" gehabt, sagt Bettel, und hoffentlich über Nacht alle Systeme neu gestartet, sodass sie nun "geschlossener und einiger" nach einer Lösung suchen könnten. Die wichtigste Stimme der EVP im Rat der Staats- und Regierungschefs ist seit bald 14 Jahren Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Alle müssten "mit neuer Kreativität an die Arbeit gehen", sagt sie und fordert ihre Kollegen auf, "sich ein wenig zu bewegen". Sie gehe jedenfalls "fröhlich und bestimmt" an die Sache ran, sagt sie in die Kameras hinein und verschwindet zu den Beratungen.

Weber hatte weder im Rat noch im Parlament eine Mehrheit gefunden

Nachfragen lässt Merkel beim Ankunftsritual des "Doorsteps" auch sonst nicht zu, an diesem Dienstag wären sie aber besonders unangenehm gewesen. "Europa rächt sich an der Kanzlerin" und "Zweifel an Merkels Führungskraft", so lauteten die Schlagzeilen der deutschen Presse, denn am Vortag hatte sich die Kanzlerin in einer Nacht- und Morgensitzung mit ihrem Personalvorschlag nicht durchsetzen können. Beim G-20-Gipfel im japanischen Osaka hatte sie mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und den Ministerpräsidenten aus Spanien und den Niederlanden, Pedro Sánchez und Mark Rutte, dafür geworben, den Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten, Frans Timmermans, zum Kommissionschef zu machen, nachdem Manfred Weber von der EVP, die die größte Fraktion im Europaparlament stellt, weder dort noch im Rat eine Mehrheit gefunden hatte.

Die EU-Abgeordneten sind aber entscheidend, da sie den Kandidaten, den die Staats- und Regierungschefs für das Amt des Kommissionspräsidenten vorschlagen, per Wahl bestätigen müssen. Weber sollte in dieser Variante Präsident des Parlaments werden, während die EVP zudem eine Frau als Außenbeauftragte hätte vorschlagen können. Die Idee scheiterte im Rat an der Blockade von Ungarn, Polen und Tschechien, die Timmermans als Feind ansehen, da er als Vizechef der EU-Kommission die Rechtsstaatsverfahren gegen Warschau und Budapest verantwortet.

Ratspräsident Tusk führt viele Gespräche

Zudem hatte Merkel unterschätzt, dass die EVP-Regierungschefs aus kleinen Ländern wie Lettland oder Bulgarien nicht bereit waren, vorschnell das wichtigste Amt zu opfern. Dasselbe Unverständnis kam aus der Fraktion der EVP, die sich am Montagabend in Straßburg getroffen hatte.

Dass Merkels Wunsch nach frischen Ideen von den "Chefs" geteilt und ernst genommen wird, zeigt sich am Dienstag daran, dass der Beginn des Gipfels mehrmals verschoben wird. Der scheidende Ratspräsident Donald Tusk führt viele Gespräche, man diskutiert in regionalen Gruppen, und natürlich gibt es Einzeltreffen. Manche bleiben geheim, andere, wie der Austausch zwischen Merkel und Macron, werden via Twitter kommuniziert, mit Beweisfotos.

Es ist denn auch eine besondere deutsch-französische Variante, die am Nachmittag die Journalisten in Aufregung versetzt: Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) soll nach diesem Plan an die Spitze der EU-Kommission aufrücken, dafür würde Paris für die nächsten acht Jahre mit der Französin Christine Lagarde die Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB) stellen. Um Außenpolitik könnte sich der slowakische Sozialdemokrat Maroš Šefčovič kümmern.

Ernsthafte Diskussionen über von der Leyen

In einer Spielart dieser Personalaufstellung ist Weber noch als Chef des EU-Parlaments vorgesehen, doch dies ist nach der EU-Arithmetik eigentlich unvorstellbar: Wie alle anderen kann Deutschland nur einen der Top-Jobs erhalten, weshalb Merkel den CSU-Vize fallen lassen müsste.

Dass ernsthaft über die Von-der-Leyen-Variante geredet wird, bestätigt am Nachmittag gegen halb zwei der Luxemburger Xavier Bettel, der im Pressesaal vorbeischaut. Er betont, dass auch weiter über Personalpakete mit Timmermans als Kommissionschef beraten werde. Am Nachmittag mehren sich Gerüchte über wachsende Unterstützung für von der Leyen, mit der es 51 Jahre nach Walter Hallstein wieder eine deutsche Spitze an der EU-Behörde gäbe. Für die 60-Jährige spricht, dass sie neben Englisch auch Französisch perfekt beherrscht.

Timmermanns soll nicht ganz unter den Tisch fallen

Für die Osteuropäer ist von der Leyen akzeptabel, da sie als Verteidigungsministerin Russland ähnlich kritisch sieht und in diesem Amt auch die unter der Abkürzung Pesco bekannte "strukturierte militärische Zusammenarbeit" vorangetrieben hat. Via Twitter sichert der Sprecher der ungarischen Regierung ihr die Unterstützung der Visegrád-Gruppe zu, zu der auch Polen, Tschechien und die Slowakei gehören. Zudem waren sich viele EU-Diplomaten längst einig, dass für den Fall, dass keiner der Spitzenkandidaten zum Zug kommt, eine Frau bessere Chancen hätte, die nötigen Stimmen im Europaparlament zu erhalten. Denn eine Frau an der Spitze der EU-Kommission, das gab es noch nie.

Diplomaten betonen, dass die CDU-Politikerin schon vor Tagen von Paris als Kompromisskandidatin genannt wurde, um zu signalisieren, dass hinter Macrons Ablehnung von Weber keine antideutschen Überlegungen stünden. Mit Spaniens Premier Sánchez weist der Wortführer der Sozialdemokraten darauf hin, dass Timmermans nicht bestraft werden dürfe, dass er sich für Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit eingesetzt habe. Es lasse die EU-Chefs in schlecht aussehen, wenn Polen und Ungarn mit ihrer Blockade den Niederländer herauskegeln würden. Also wird überlegt, ob Timmermans und die liberale Spitzenkandidatin Margrethe Vestager Vizechefs der EU-Kommission werden könnten. Es dauert schließlich bis 16.21 Uhr, ehe der Sondergipfel offiziell fortgesetzt wird. Es folgen weitere Unterbrechungen, doch um 19.05 wird der Vorschlag Realität, von dem fast alle ausgegangen waren: In vier Tweets teilt Donald Tusk mit, dass von der Leyen als Chefin der Kommission vorgeschlagen wird. Dem muss das Parlament zustimmen. Den Belgier Charles Michel wählen die Staats- und Regierungschefs sogleich zum Nachfolger von Tusk. Nominiert werden als EZB-Chefin die Französin Christine Lagarde sowie der Spanier Josep Borrell als Außenbeauftragter der EU.

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