Brüssel:Wie nationale Kulturkämpfe die EU lähmen

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Die spanische Sozialistin Teresa Ribera soll zur Stellvertreterin Ursula von der Leyens aufsteigen – aber das gefällt nicht allen. (Foto: Nicolas Tucat/AFP)

Vor allem in Italien und Spanien wurzelt der Streit um die Besetzung der neuen EU-Kommission. Nun scheint sich eine Lösung abzuzeichnen.

Von Marc Beise, Patrick Illinger, Josef Kelnberger, Rom, Madrid, Brüssel

Im erbittert geführten Streit um die neue Führung der Europäischen Union zeichnete sich am Dienstag eine Lösung ab. Sozialdemokraten und Liberale scheinen den Weg freizumachen für den Italiener Raffaele Fitto, einen Gefolgsmann der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni. Fitto soll nach dem Willen von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einer ihrer sechs Stellvertreter werden. Im Gegenzug ist die Europäische Volkspartei (EVP) offenbar bereit, ihren Widerstand gegen die spanische Sozialistin Teresa Ribera, ebenfalls Kandidatin für einen Vizeposten in der Kommission, aufzugeben.

An diesem Mittwoch wollen EVP, Sozialdemokraten und Liberale – die drei Fraktionen, die das Programm der Kommissionspräsidentin tragen – einen Kompromiss auf den Weg bringen. Wenn alles läuft wie geplant, könnte die neue Kommission nächste Woche in Straßburg gewählt werden und am 1. Dezember ihr Amt antreten, fast ein halbes Jahr nach den Europawahlen. Aber bis zuletzt dürften die Verhandlungen auf Messers Schneide stehen. Zu heftig sind die Kulturkämpfe zwischen links und rechts, die aus Spanien und Italien, den Heimatländern von Ribera und Fitto, nach Brüssel übergegriffen haben.

Ribera, die „Ministerin der Flutkatastrophe“?

Der Streit wurzelt zu großen Teilen in der spanischen Innenpolitik. Nach der Flutkatastrophe von Valencia hatte es kurzzeitig so ausgesehen, als würden die notorisch verfeindeten Volksparteien, der konservative Partido Popular (PP) und der sozialistische PSOE, ihre Dauerfehde ruhen lassen, um den Menschen in Not zu helfen. Doch bald begannen beide Lager, einander die Schuld am katastrophalen Notfall-Management in Valencia zuzuschieben. Mehr noch: Die Parteien witterten eine Chance, aus dem Versagen der jeweils anderen Kapital zu schlagen.

Spaniens sozialistischer Premier Pedro Sánchez unterließ es, einen nationalen Notstand auszurufen, wodurch die Verantwortung für die Hilfsmaßnahmen beim Ministerpräsidenten der Region Valencia, Carlos Mazón, blieb. Dieser, ein PP-Mann, erwies sich als derart inkompetent, dass 130 000 Menschen bei einer Demonstration in Valencia seinen Rücktritt forderten. Doch statt das Scheitern der Regionalregierung von Valencia einzugestehen, entschied sich der Anführer des Partido Popular und Oppositionsführer im Madrider Parlament, Alberto Núñez Feijóo, für ein Ablenkungsmanöver. Seine Partei richtete den Fokus auf Teresa Ribera, die bisherige Umweltministerin im Kabinett Sánchez.

Die Sozialistin Ribera habe als zuständige Ressortchefin den Hochwasserschutz vernachlässigt, hieß es. Sie sei daher als EU-Kommissarin untauglich. Plötzlich war Ribera die „Ministerin der Flutkatastrophe“, die versuche, ihre „Unfähigkeit zu verbergen“, wie die Europaabgeordnete Dolors Montserrat twitterte. Statt zu unterstützen, dass eine Spanierin zur wichtigsten Stellvertreterin Ursula von der Leyens aufsteigt, sah der PP eine Chance, Sánchez eine schwere Niederlage zuzufügen.

Tatsächlich ist es aus EU-Sicht nicht ganz unproblematisch, wenn eine derart wichtige Kommissarin wie Ribera – zuständig für Wettbewerbspolitik und den Grünen Deal – mit einer innenpolitischen Last ihr Amt in Brüssel antritt. Allerdings geriet Ribera zusätzlich in einen Streit zwischen Sozialdemokraten und Konservativen, in dessen Mittelpunkt von Anfang an der Italiener Fitto stand.

Auch der Widerstand gegen Fitto hat eine nationale Komponente

Die sozialdemokratische Fraktion hatte sich festgelegt: Ein Mann wie Fitto, der einer postfaschistischen Partei angehört, dürfe keinen herausgehobenen Job in der Kommission bekommen. Die Sozialdemokraten werden bezeichnenderweise von einer Spanierin geführt: Iratxe García Pérez, einer Vertrauten des spanischen Regierungschefs. Fitto wird hingegen unterstützt von Manfred Weber, dem Chef der Europäischen Volkspartei (EVP). Der Christdemokrat betrachtet Meloni als strategische Partnerin in der EU. Sozialdemokraten und auch Liberale werfen Weber vor, er wolle künftig im Parlament mit rechten Mehrheiten regieren. Und so kam es zur Blockade zwischen links und rechts: keine Zustimmung zu Fitto, keine Zustimmung zu Ribera.

Auch der Widerstand gegen Raffaele Fitto hat nicht nur eine europäische, sondern auch eine nationale Komponente. Die italienische Politik, in der es früher häufig ein eifriges Wechselspiel über Parteigrenzen hinweg gab, steckt in einem harten Rechts-links-Konflikt. Beide Lager bestehen aus einer führenden Partei: rechts die Fratelli d’Italia der Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die in Umfragen bei rund 29 Prozent liegen, links die Sozialdemokraten des Partito Democratico von Elly Schlein mit etwa 22 Prozent.

Namentlich Giorgia Meloni macht immer wieder deutlich, dass nach vielen links dominierten Jahren – so sieht sie das – nun die Rechten dran seien, Italien und Europa zu prägen. Dabei hat sie das Problem, dass ausgerechnet ihre eigene Partei, die sie nach der Gründung vor einem guten Jahrzehnt aus dem äußersten rechten Dunstkreis bis in die Regierung geführt hat, noch nicht über ein gewachsenes Potenzial an erfahrenen, kompetenten Politikern verfügt. Man kann es für eine Ironie der Geschichte halten, dass der Brüsseler Kommissars-Streit nun ausgerechnet an der Person eines Mannes ausgefochten wird, der zu den wenigen wirklich kompetenten Leuten in Melonis Umfeld zählt.

Der 55-jährige Fitto hat reichlich Regierungserfahrung. Der Sohn eines einst führenden Christdemokraten war Präsident der Region Apulien, schon unter Berlusconi Minister, acht Jahre Europa-Abgeordneter und dort Co-Vorsitzender seiner Fraktion. Seit Melonis Wahlsieg ist er als Europaminister für die Verteilung der europäischen Fördergelder in Italien zuständig. Fitto ist parteiübergreifend hoch angesehen. Die Wirtschaft setzt sich für ihn ein, und sogar der über jeden Zweifel erhabene Staatspräsident Sergio Mattarella hat ihn gerade demonstrativ empfangen. Aber für die Linke in Italien ist er eben vor allem: der von den Postfaschisten nominierte Kandidat.

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