EU-Kommission kritisiert deutsche Reformverweigerung:Ohrfeigen aus Brüssel

Krisenländern der Euro-Zone präsentiert sich Deutschland gerne als Vorbild. Allerdings ist der Reformwillen der Bundesregierung laut EU-Kommission selbst alles andere als mustergültig, wenn es um Vorgaben aus Brüssel geht. Jüngstes Beispiel: die Vorratsdatenspeicherung. Doch nicht nur da fehlt der Ehrgeiz.

Kathrin Haimerl, Brüssel

Der Bericht des Wirtschaftsministeriums strotzt geradezu vor Eigenlob: "Deutschland ist die europäischen und nationalen Verpflichtungen im vergangenen Jahr konsequent angegangen." Es ist die Rede von "erheblichen Fortschritten", insbesondere in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und Armut habe die Bundesregierung "große Erfolge" vorzuweisen.

An official walks under the European Union's national flags in the main press room of the EU Council in Brussels

"Serie von Ohrfeigen für die Bundesregierung wegen Reformverweigerung": Flaggen von EU-Mitgliedsstaaten in Brüssel

(Foto: Reuters)

Nur: Auf EU-Ebene wartet derzeit mächtig Ärger auf die Bundesregierung. Am Vortag verlor die Kommission in Sachen Vorratsdatenspeicherung die Geduld mit der Bundesregierung. Brüssel verklagt Berlin vor dem Europäischen Gerichtshof, weil die Bundesregierung die EU-Richtlinie aus dem Jahr 2006 immer noch nicht in nationales Recht übertragen hat.

Und auch in den Begleitunterlagen zu den länderspezifischen Empfehlungen stellt die Kommission der Bundesrepublik in Sachen Finanz- und Wirtschaftspolitik ein eher mäßiges Zeugnis aus: "Die Reformanstrengungen halten sich in Grenzen, vor allem was den Arbeitsmarkt, den Finanzsektor, den Schienenverkehr und andere Dienstleistungssektoren angeht." Es fehle der "Ehrgeiz, die vorhandenen Herausforderungen anzugehen".

"Serie von Ohrfeigen"

Noch deutlicher wird der Grünen-Europaparlamentarier Sven Giegold. Er spricht von einer "Serie von Ohrfeigen für die Bundesregierung wegen Reformverweigerung": Es sei "peinlich", dass die Empfehlungen der EU-Kommission für die zweite Reformperiode des Europäischen Semesters mit denen der ersten Reformperiode weitgehend identisch seien.

Tatsächlich ist die Bundesregierung nicht verpflichtet, die Ratschläge aus Brüssel zu befolgen. Anders als bei der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, die in allen Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden muss, handelt es sich eben nur um Empfehlungen. Was bleibt, ist der moralische Schaden, wenn ausgerechnet das Land, das sich in Europa gerne als Lehrmeister gibt, die Ratschläge aus Brüssel in den Wind schlägt: "Während man anderen Ländern erzählt, was sie ändern sollen, macht man die eigenen Hausaufgaben nicht", schimpft Giegold.

Die Kritik aus Brüssel

Unter anderem kritisiert die Kommission folgende Punkte:

[] Im Finanzsektor seien die "strukturellen Probleme" der Landesbanken nach wie vor "aktuell". Ihnen fehle ein "zukunftsfähiges Geschäftsmodell". Die Bundesregierung gehe die Probleme nur "stückchenweise" an, statt eine langfristige Strategie zu ergreifen.

[] Der Wettbewerb auf der Schiene sei sowohl beim Personen- als auch beim Güterverkehr nach wie vor nicht sehr ausgeprägt. Dies liege vor allem daran, dass der Betrieb der Infrastruktur unter der Deutschen Bahn erfolge. Das neue Eisenbahnregulierungsgesetz, das noch nicht einmal in Kraft ist, geht der Kommission nicht weit genug. Ein Regierungssprecher kann die Kritik nicht nachvollziehen: Der Wettbewerb funktioniere, private Anbieter hätten ihren Marktanteil gesteigert. "Im Gegensatz zu anderen EU-Mitgliedstaaten hat Deutschland den Passagier- und Frachtverkehr bereits vollständig für private Wettbewerber geöffnet."

[] Im Rahmen des Euro-Plus-Pakts rügt die Brüsseler Behörde, dass ihr die Bundesregierung alte Maßnahmen als Reformen verkauft habe. So liste sie an mehreren Stellen Maßnahmen auf, die bereits geplant und umgesetzt wurden, bevor sie 2011 in den Pakt aufgenommen wurden. "Diese stellen keine zusätzlichen Verpflichtungen dar", lautet das Urteil der Behörde.

[] Die Erfolgsbilanz des deutschen Bildungssystems sei der Kommission zufolge "noch verbesserungsfähig". Der Nationale Aktionsplan zur Integration geht der Kommission nicht weit genug. Bei Migranten liege die Quote der Schulabbrecher bei mehr als 20 Prozent (10,2 Prozent bei Einheimischen). "Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass Deutschland seine Bildungsanstrengungen vor allem mit Blick auf die sozial schwachen Bevölkerungsgruppen noch verstärken muss."

[] Besonders ausführlich widmet sich die Behörde den Versäumnissen im Bereich Arbeitsmarkt. Als "problematisch" bezeichnet die Kommission den "geringen Frauenanteil unter den Vollzeitbeschäftigten". Sie listet mehrere Ursachen auf, darunter das Fehlen von Kindertagesstätten und Ganztagsschulen. Die bisher getroffenen Maßnahmen, darunter der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, hält die Kommission für "nicht ausreichend". Auch das Betreuungsgeld erwähnt die Kommission, allerdings in einer Weise, die Familienministerin Kristina Schröder nicht gefallen dürfte: Die geplante Förderung stehe "im Widerspruch zu dem Ziel einer Erhöhung des Frauenanteils unter den Beschäftigten". Es bestehe die Gefahr, dass Kinder aus sozial schwachen Familien, die besonders von der frühkindlichen Erziehung profitieren würden, von diesen Einrichtungen fern gehalten würden.

Fehlanreize wie das Ehegattensplitting

Auf SZ-Anfrage teilt eine Sprecherin des Familienministeriums mit, man habe gegenüber der EU-Kommission im Vorfeld "betont", dass die Förderung so ausgestaltet werde, dass sie sich nicht negativ auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen auswirke. Die Kommission fand die Argumente des Ministeriums wohl nicht sonderlich überzeugend.

Auf wenig Verständnis stößt nun umgekehrt die Kritik aus Brüssel in Berlin. Bezüglich der Erwerbstätigkeit von Müttern verweist die Sprecherin auf einen "neuen Trend", wonach diese in den vergangenen Jahren "deutlich" gestiegen sei - und zwar in vier Jahren um ganze vier Prozent auf 64,5 Prozent. Zugenommen habe der Anteil der Mütter, die "vollzeitnah oder in mittlerem Teilzeitumfang zwischen 15 und 32 Stunden in der Woche" arbeiten. Was die Sprecherin nicht erwähnt: Der Anteil der Mütter, die tatsächlich in Vollzeit arbeiten, ist seit 2005 gleich geblieben. Die Autoren der Studie weisen außerdem darauf hin, dass im internationalen Vergleich "der häufig niedrige Arbeitszeitumfang der Mütter auffällig" sei.

Neben der mangelnden Kita-Plätze macht die Kommission steuerliche Fehlanreize wie das Ehegattensplitting für diese Situation verantwortlich. Doch auch das Finanzministerium sieht keinen Handlungsbedarf: Das Splitting-Verfahren sei "geschlechtsneutral ausgestaltet" und "keine Ursache für den geringen Anteil an Frauen in Vollbeschäftigung", teilt es auf SZ-Anfrage mit. Im Übrigen sei das Splitting-Verfahren "nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine beliebig veränderbare Steuervergünstigung".

Der Musterschüler also scheint nicht bereit, sich zu bewegen. Zudem kann er auch noch an der endgültigen Fassung mitschreiben, denn diese muss vom Rat, also der Vertretung der europäischen Staats- und Regierungschefs, abgesegnet werden.

Im vergangenen Jahr dürfte der Lobbydruck der Bundesregierung dazu geführt haben, dass die Passage zum Ehegattensplitting entschärft wurde. So empfahl die Kommission in ihrer ursprünglichen Version unter Punkt zwölf noch die Abschaffung dieses Verfahrens. In der vom Rat verabschiedeten Version war nur noch die Rede davon, dass Deutschland die Effekte des 2009 eingeführten Faktorverfahrens überwachen solle, das die Steuerlast zwischen den Ehepartnern gerechter verteilen soll.

Doch auch dem ist die Bundesregierung bislang nicht nachgekommen. Man sehe dazu "keine Notwendigkeit", heißt es lapidar aus dem Finanzministerium.

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