Süddeutsche Zeitung

Interview am Morgen: EU-Kommission:"Frauenrechte sind die Brennnesseln der Demokratie"

Maria Noichl, Europaabgeordnete aus Bayern, entscheidet über die neue EU-Kommission mit. Sie spricht über Zeigerpflanzen und Gleichstellungspolitik und erklärt, warum bei von der Leyens Team noch einiges im Argen liegt.

Interview von Jana Anzlinger

Erstmals wird mit Ursula von der Leyen eine Frau an der Spitze der EU-Kommission stehen. Und erstmals wird fast Parität herrschen - wenn die Abgeordneten des EU-Parlaments einverstanden sind. Bei den "Hearings" stellen Mitglieder der Parlamentsausschüsse Fragen an die Kandidaten. Der Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter, kurz FEMM, ist am Mittwoch dran. Dort sitzt seit 2014 die Sozialdemokratin Maria Noichl aus Bayern.

Die 13 neuen Kommissarinnen sollen vor allem für Sozialpolitik und europäische Werte wie Chancengleichheit zuständig sein. Die Ressorts Haushalt, Wirtschaft, Finanzen und Handel sollen dagegen jeweils von einem der 14 Männer geführt werden - genauso wie Außenpolitik, Migration oder Krisenmanagement.

SZ: Wird Frauen in der Kommission nicht zugetraut, mit Geld und internationalen Konflikten umzugehen?

Maria Noichl: Diese Aufteilung ist sicher kein reiner Zufall. Man erlebt das in jedem Gemeinderat: Finanzausschuss und Bauausschuss sind in männlicher Hand, Jugend- und Sozialausschuss in weiblicher. Das mag manchmal mit Interessenlagen zu tun haben, drückt aber auch Stereotypen aus: Die "harten Themen" sind bei den "harten Männern".

Das heißt nicht, dass die Themen der Kommissarinnen unwichtiger sind. Europa ist mehr als die "harten Themen". Soziales Miteinander, Werte und Rechtsstaatlichkeit sind genauso wichtig wie etwa Wirtschaftsthemen.

Ich freue mich über die paritätisch besetzte Kommission, sie ist ein Signal. Ein weiteres wichtiges Signal, nämlich Parität im Parlament, fehlt noch.

Interview am Morgen

Diese Interview-Reihe widmet sich aktuellen Themen und erscheint von Montag bis Freitag spätestens um 7.30 Uhr auf SZ.de. Alle Interviews hier.

Keiner der Kommissare ist eine Person of Color, keiner vertritt die Millionen Muslime und Juden in der EU, von LGBTQI ganz zu schweigen. Für Chancengleichheit steht von der Leyens Kommission also nicht gerade, oder?

Was den kulturellen, ethnischen oder religiösen Hintergrund betrifft, ist diese Kommission nicht divers. Dabei sollte sie die Gesellschaft vertreten.

Ich hoffe, dass es nach der nächsten Wahl eine bunte Kommission gibt. Dafür sollten die Mitgliedstaaten sorgen. Die bestimmen, wer für sie an den Start geht. Kommissare und Kommissarinnen sind so etwas wie die Klassensprecher und Klassensprecherinnen der Mitgliedsländer.

Seit Montag befragen die Abgeordneten im EU-Parlament diese Klassensprecher und akzeptieren sie - oder lehnen sie ab. Was halten Sie von Helena Dalli, die künftig für Gleichstellung sorgen soll?

Dalli hat mich Mitte August in meinem Büro in Straßburg besucht und wirkte überzeugend. Sie ist Sozialdemokratin und hat in ihrem Heimatland Malta die Rechte von Frauen und LGBTQI Menschen gestärkt. Allerdings sind dort erst seit Kurzem Ehescheidungen erlaubt und Schwangerschaftsabbrüche bis heute nicht. Das Parlament wird Dalli zu diesen Themen befragen - und natürlich zum Fall der Journalistin, die in Malta getötet wurde. Jeder Kommissar und jede Kommissarin bringt die Geschehnisse des eigenen Landes mit.

Der FEMM-Ausschuss wird Dalli am Mittwoch befragen ...

... und sonst fast niemanden, das ist ärgerlich. Obwohl der Frauenrechtsausschuss nach dem Prinzip des Gender Mainstreaming in fast allen Ausschüssen Fragen stellen sollte, sind wir lediglich bei vier weiteren Anhörungen eingeladen. Dort wird versucht, unsere Perspektive meist durch eine Frage abzudecken. Das ist aber nicht genug. Bei anderen Anhörungen, die Themen behandeln, die Frauen besonders oder anders betreffen als Männer, sind wir gar nicht eingeladen. Das ist rückwärtsgewandt und zeigt nicht in die Zukunft.

Eigentlich hat sich die EU zu Gender Mainstreaming bekannt. Das bedeutet, dass Gleichstellung bei allen Themen und Entscheidungen bedeutsam ist und mitbedacht werden muss. Genau den Ausschuss, der für dieses Prinzip zuständig und deswegen eben nicht in eine Schachtel zu packen ist, genau den Ausschuss packen sie in eine Schachtel. Das heißt, Gender Mainstreaming wird im Keim erstickt.

Andere klagen darüber, dass Ausschüsse für mehrere Kommissare zuständig sein sollen - oder Kommissare für mehrere Ausschüsse. Das Prinzip der Spiegelbildlichkeit - zu jedem Thema ein Kommissar und ein Ausschuss - dürfe nicht verloren gehen.

Es geht nicht darum, wie viele Ausschüsse für einen Kommissar oder eine Kommissarin zuständig sind. Unklar ist, welche Ausschüsse überhaupt zuständig sind - und welche Themen der Kommissar oder die Kommissarin eigentlich bearbeitet.

Jeder Kommissar hat ein Ressort, was ist daran unklar?

Die Ressorts sind alle mit vollmundigen Überschriften versehen, die sich nett anhören, aber keine klare Zuständigkeit zuweisen. Zum Beispiel gibt es eine Kommissarin für "Demokratie und Demografie". Das ist ja alles. Wir haben noch keinen Mechanismus gehört, wenn mehrere Kommissare und Kommissarinnen zuständig sind. Wer hat da am Schluss den Hut auf, wer entscheidet? In Bayern würde man sagen: Wer ist der Ober und wer ist der Unter? Das ist in dieser Kommission nicht geklärt. Und wenn das nicht geklärt ist, wen sollen wir Abgeordneten dann bei Hearings befragen? Wem sollen wir Briefe schreiben? Wem sollen wir auf die Füße steigen? In diesem Kommissars-Nebel kriegen wir keinen Zuständigen zu packen. Die können den Ball hin und her spielen - und das kann einen Kontrollverlust fürs Parlament bedeuten.

Von der Leyen möchte gleich acht Kommissare zu Vizechefs ernennen, zuvor waren es fünf - und davon hatte nur einer einge herausgehobene Rolle: Frans Timmermans, der für Rechtsstaatlichkeit zuständig ist. Er und Margrethe Vestager sollen nun die wichtigsten Vize-Positionen besetzen und sich um Umweltpolitik und Wettbewerb kümmern. Was halten Sie von dem Umbau?

Dass die Rechtsstaatlichkeit nicht mehr bei der rechten Hand der Spitze ist, sondern bei einem untergeordneten Kommissar, halte ich für eine Katastrophe. Die Kommission ist dafür da, die EU-Verträge zu hüten. Deswegen ist die Rechtsstaatlichkeit so wichtig. Von der Leyen hatte Schwierigkeiten, die Stimmen einiger osteuropäischer Länder zu bekommen. Deswegen hat sie Zugeständnisse gemacht. Sie hat Ungarn und Polen die Rechtsstaatlichkeit vom Hals geschafft und sich im Gegenzug die Stimmen dieser Staaten gesichert.

Von der Leyens zweites Geschenk an diese Staaten betrifft mein Themengebiet: Dallis Ressort soll nicht mehr "Justice, Consumers and Gender Equality", sondern nur noch "Equality" heißen.

Also nicht mehr "Justiz, Verbraucher und Geschlechtergleichstellung", sondern nur noch "Gleichstellung". Warum ist Ihnen das so wichtig?

Mich verärgert das sehr. Mit Věra Jourová hatten wir in der letzten Legislaturperiode erstmals eine Kommissarin, die an ihrem Türschild "Gender equality" stehen hatte. Die war für die Gleichstellung der Geschlechter zuständig, vor allem für die juristischen Aspekte. Jetzt passt das Türschild nicht mehr. Und ich habe eine Vermutung, warum das so ist: Das Wort "Gender" bezeichnet das soziale Geschlecht. Für die extrem Rechten ist es ein Reizwort geworden, in Deutschland sprechen sie etwa von "Gender-Gaga" und wollen den Studiengang "Gender Studies" nicht mehr fördern oder gleich verbieten; das ist auch in Ungarn geschehen. Wenn irgendwo "Gender" davor steht, sind die Rechten prinzipiell dagegen. Bei der Gleichstellung knickt von der Leyen vor den rechten Tendenzen in Europa ein.

Wenn diese Bezeichnung so wichtig ist, könnte man sie auch so deuten: In der EU sollen nicht nur Geschlechter, sondern alle Menschen gleichgestellt sein.

Die Bezeichnung wurde nicht gewählt, um allumfassend zu wirken. Natürlich sollen alle Menschen gleichgestellt sein. Es geht um den Fokus. Im Grundgesetz und in den EU-Verträgen steht: Frauen und Männer sind gleich. Zu betonen, dass es ein extremes Gefälle ausschließlich aufgrund des Geschlechts gibt, das ist wichtig, weil wir nur dann an dem Thema weiterkommen. Es mit allen anderen Themen zu vermischen, bringt uns nicht weiter. Frauenrechte sind die Brennnesseln der Demokratie.

Sie machen neben Gleichstellungs- auch Agrarpolitik, daher rührt wohl dieses Beispiel. Was meinen Sie damit?

Brennnesseln sind eine Zeigerpflanze: Sie können nur dort wachsen, wo Stickstoff im Boden ist. Wenn Sie durch den Wald gehen und Brennnesseln sehen, dann wissen Sie: Hier muss Stickstoff im Boden sein. Da brauchen Sie keine Biologin zu sein. Wenn Sie ein Land anschauen und Frauenrechte sehen, dann wissen Sie: Hier ist Demokratie. Denn nur in demokratischen Ländern können Frauenrechte wachsen. Wenn in EU-Mitgliedstaaten Frauenrechte beschnitten werden wie mit einer Gartenschere, dann ist die Demokratie in Gefahr.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4622176
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/ghe
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.