Europäisches Parlament:Zeit für den Aufstand

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Die Staats- und Regierungschefs haben sich das fein ausgedacht. Doch das Europaparlament sollte Ursula von der Leyen als Kommissionschefin ablehnen - und damit einem wirklich demokratischen Europa einen Dienst erweisen.

Kommentar von Stefan Ulrich

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben dem Europaparlament den Fehdehandschuh hingeschleudert - es sollte ihn aufnehmen. Sie haben in Ursula von der Leyen eine unangemessene und wenig geeignete Kandidatin als Kommissionspräsidentin vorgeschlagen - es sollte sie ablehnen. Und sie haben die Demokratisierung der Europäischen Union zurückgedreht - das Europaparlament sollte dagegen aufstehen. Nur so kann es verhindern, dass die EU nach dem Brexitbeschluss der Briten erneut geschwächt wird, und zwar diesmal von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer selbst.

Die Geschichte des Parlamentarismus ist auch eine Geschichte des Kampfs um Parlaments- und damit Bürgerrechte. Die Herrscher, die Regierenden, haben den Abgeordneten meist nicht freiwillig Macht und Kompetenzen gegeben. Sie taten es unter dem Druck des Volkes oder der Abgeordneten oder sie wurden durch Revolutionen vor vollendete Tatsachen gestellt.

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Auch das Europaparlament hat eine Geschichte mühsamer Emanzipation. Bei seiner Gründung 1952 und noch bei der ersten Direktwahl 1979 war es eher demokratisches Bonsaifeigenblatt als kraftvolle Volksvertretung. Doch über die Jahrzehnte haben sich die Abgeordneten viele Mitentscheidungsrechte erkämpft und so am Ziel eines demokratisch direkt legitimierten Europas gearbeitet. Allerdings fehlte ihnen ein typisches Parlamentsrecht: den Regierungschef - in Europa entspricht dem in etwa der Kommissionspräsident - im Lichte der Wahlen und der Koalitionsverhandlungen selbst zu bestimmen.

Vor fünf Jahren haben sich die Abgeordneten dann auch dieses Recht erobert: Die europäischen Parteienfamilien stellten zur Europawahl 2014 Spitzenkandidaten auf, und die Staats- und Regierungschefs willigten schließlich darin ein, Jean-Claude Juncker, den Spitzenmann der Europäischen Volkspartei (EVP), zum Kommissionspräsidenten zu machen. Das war eine Sternstunde europäischer Demokratie. Und Juncker hat sich als ziemlich fähiger Kommissionspräsident erwiesen.

Jetzt wollen die Staats- und Regierungschefs ihre Übermacht in der EU zurück, indem sie die erfolgreichsten Spitzenkandidaten der Europawahl 2019 - Manfred Weber von der EVP und Frans Timmermans von den Sozialdemokraten - übergehen und Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin nominieren. Das ist unangemessen, weil von der Leyen nicht als Spitzenkandidatin angetreten ist und von den Bürgern bei deren Wahlentscheidung nicht berücksichtigt werden konnte. Und von der Leyen ist ungeeignet, weil sie im sechsten Jahr Verteidigungsministerin in Berlin ist und sich die Bundeswehr dennoch in so beklagenswertem Zustand befindet, dass die Ministerin längst hätte zurücktreten sollen. Als Kommissionspräsidentin wäre sie überfordert.

Falls von der Leyen dennoch neue Kommissionschefin werden sollte, wäre das eine Ohrfeige für viele, und besonders viele junge Menschen, die sich im Wahlkampf für eine demokratische EU eingesetzt haben. Und es wäre ein Wink an Hunderte Millionen Wähler: Ihr könnt abstimmen, wie ihr wollt, die wichtigen Entscheidungen schachern dann wir Staats- und Regierungschefs untereinander aus. So frustriert man Europäer. So bricht man den Schwung, den die gute Wahlbeteiligung der europäischen Idee gebracht hat.

Schuld an diesem Desaster sind vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron, der das Spitzenkandidatensystem aus eigenem Machtkalkül bekämpfte, sowie etliche Staats- und Regierungschefs Mittelosteuropas, die von einem demokratischeren Europa nichts wissen wollen. Schuld sind aber auch einige Fraktionen des EU-Parlaments selbst. Sozialdemokraten und Liberale haben dem konservativen Wahlgewinner Weber die Unterstützung versagt und so die Lücke gerissen, in welche die Staats- und Regierungschefs stoßen konnten. Zudem hat sich die EVP ihrerseits geweigert, den Sozialdemokraten Timmermans mitzutragen, obwohl Weber und Kanzlerin Angela Merkel dies klugerweise vorgeschlagen hatten. Wirklich europäisch verhielten sich nur die Grünen, die standhaft am Spitzenkandidatenprinzip festhielten.

Nun haben die Europaabgeordneten die Chance, ihre Fehler wiedergutzumachen und den Angriff auf die Demokratisierung der EU zurückzuschlagen. Sie sollten von der Leyen durchfallen lassen. Gewiss, das würde in Zeiten von Brexit, Trump, Klimawandel und einem aggressiven China die EU in einen schweren Machtkampf stürzen. Aber da muss Europa durch. Nur eine wirklich demokratische Union, in der die Bürger das entscheidende Wort sprechen und das Parlament das Machtzentrum ist, kann aus künftig 27 Staaten mit egoistischen Regierungen eine Einheit formen und so die genannten Herausforderungen bestehen. Europa in seiner derzeitigen Verfassung aber, von der Regierungen Gunst und Hass zerrissen, wird scheitern. Deshalb muss das Parlament jetzt den Aufstand wagen.

© SZ vom 04.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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