Lehren aus Afghanistan:EU-Kommissar fordert schnelle Eingreiftruppe

Einen Wendepunkt in der europäischen Verteidigungspolitik fordert EU-Kommissar Thierry Breton.

Einen Wendepunkt in der europäischen Verteidigungspolitik fordert EU-Kommissar Thierry Breton.

(Foto: Emil Helms/Imago)

Thierry Breton will Europas Verteidigungsminister von einer starken gemeinsamen Sicherheitspolitik überzeugen - inklusive Armee. Das Desaster in Afghanistan müsse ein "Weckruf" sein. Doch die Ideen des EU-Kommissars dürften auf Widerstand stoßen.

Von Björn Finke, Brüssel

In Thierry Bretons Büro im zehnten Stock der Kommissionszentrale steht ein Regal voller gerahmter Fotos. Darauf ist der EU-Binnenmarktkommissar zusammen mit anderen Prominenten aus Politik und Wirtschaft zu sehen. Schließlich blickt der 66-Jährige auf eine lange Karriere als Topmanager und französischer Minister zurück. Ein Foto zeigt, wie Breton 2016 dem damaligen Kommissionchef Jean-Claude Juncker, Bundeskanzlerin Angela Merkel und anderen seinen Vorschlag für einen EU-Verteidigungsfonds präsentiert. Dieser Geldtopf wurde fünf Jahre später, im April 2021, wirklich etabliert und unterstützt nun Rüstungsprojekte der Mitgliedstaaten. Breton ist zuständig dafür. "Wer hätte das damals gedacht?", sagt der Kommissar lächelnd.

Jetzt fordert Breton allerdings weit radikalere Schritte in der EU-Verteidigungspolitik: Geht es nach ihm, sollen die Mitgliedstaaten eine gemeinsame schnelle Eingreiftruppe gründen, samt militärischer Kommandozentrale, und sich auf eine Sicherheitsdoktrin einigen, die festlegt, bei welchen Bedrohungen EU-Truppen auf welche Art eingreifen sollen. Die ehrgeizige Vision skizziert Breton in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung; an diesem Donnerstag will er darüber beim Treffen der EU-Verteidigungsminister in Slowenien diskutieren.

Anlass seines Vorstoßes sind die Erfahrungen in Afghanistan: Europäische Regierungen waren komplett von den US-Streitkräften abhängig, sie konnten den Einsatz ohne die Amerikaner nicht verlängern und nicht einmal den Flughafen in Kabul alleine schützen. Breton verlangt, diese Lehre für einen "Wendepunkt" zu nutzen: "Wir müssen den Weckruf hören und eine europäische Antwort darauf vorschlagen", sagt er. Die EU-Verträge sähen eine gemeinsame Verteidigungspolitik vor - nun müssten die Staaten dies mit Leben füllen.

Breton argumentiert hier ganz in der Tradition seines Heimatlandes: Die Regierung in Paris hat wiederholt gefordert, dass die EU militärisch unabhängiger von den USA werden müsse. Doch manche osteuropäischen Staaten sehen solche Initiativen mit Argwohn, weil sie eine Spaltung der Nato fürchten und weniger Schutz der Amerikaner gegen russische Aggressionen. Auch die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer bezeichnet es als "Illusion", dass die EU jemals ohne die USA als Sicherheitsgaranten auskommen könne. Ein weiteres Hindernis für mehr Zusammenarbeit in Brüssel ist, dass sich die außenpolitischen Interessen der Staaten unterscheiden - und ihre Einschätzung, wo die größten Bedrohungen liegen.

"Es ist offensichtlich, dass wir Lücken haben"

Deshalb gelingen Fortschritte nur im Schneckentempo: Zwar existieren EU-Battlegroups, Einheiten der Mitgliedstaaten, die für gemeinsame Einsätze bereitstehen. Aber sie wurden noch nie genutzt. Immerhin soll der neue Verteidigungsfonds nun grenzübergreifende Forschung und Beschaffung fördern; daneben gibt es sogenannte Pesco-Projekte, bei denen alle EU-Staaten außer Malta und Dänemark gemeinsam versuchen, ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern. Außerdem soll unter französischer Ratspräsidentschaft Anfang kommenden Jahres ein Strategischer Kompass verabschiedet werden. Dort definieren die Mitgliedstaaten, welche Bedrohungen bestehen, was die EU bereits leisten kann und was sie künftig können muss.

Breton sieht seinen Vorstoß als Beitrag zu dieser Strategiedebatte. Und er ist nicht der Einzige, der der Europäischen Union Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz abverlangt. So warf EU-Ratspräsident Charles Michel am Mittwoch bei einer Rede die rhetorische Frage auf, ob Europa "als globale Wirtschaftsmacht zufrieden sein kann mit einer Situation, in der wir nicht fähig sind, die Evakuierung unserer Bürger" ohne Hilfe der USA zu sichern.

Trotzdem muss Breton mit großen Widerständen rechnen. Doch das ficht den ebenso selbst- wie sendungsbewussten Franzosen nicht an: Als er 2016 den Verteidigungsfonds vorgeschlagen habe, "hat auch niemand gedacht, dass das möglich sein wird, aber es war möglich", sagt er.

Den Einwand, solche EU-Initiativen könnten die Nato schwächen, wehrt Breton ab. Die Allianz mit den USA und die Nato sollten "keinesfalls" infrage gestellt oder ersetzt werden, sondern es gehe um zusätzlichen Schutz. Die amerikanische Regierung fordere ja selbst, dass die Europäer mehr Anstrengungen in der Verteidigungspolitik unternehmen sollten.

Außerdem gebe es Bereiche, in denen die Nato nicht viel anzubieten habe, etwa bei der Cybersicherheit oder sogenannten hybriden Bedrohungen - Aggressionen unterhalb der Schwelle eines kriegerischen Angriffs. "Sollen wir hier einfach nur abwarten? Nein, wir sollten zusammen handeln", sagt der Kommissar. "Es ist offensichtlich, dass wir Lücken haben, dass es nicht funktioniert. Wir konnten in Afghanistan nicht das machen, was wir machen wollten und hätten machen sollen. Was sollen wir dagegen tun?" Wohin die Debatte mit den EU-Regierungen schließlich führe, wisse er nicht, doch "es ist an der Zeit, diese Fragen zu stellen, allein schon aus Verantwortung gegenüber unseren Mitbürgern".

"Abwarten macht nichts besser"

Konkret verlangt Breton unter anderem, dass sich die Staaten bei Rüstungsprojekten besser absprechen. Daneben sollen sie in der von ihm geforderten Sicherheitsdoktrin "festlegen, wo, wann und warum Europa militärisch eingreifen und falls nötig auch Nato-Missionen ergänzen sollte". Einsätze könnten sich gegen Cyber- und Terrorattacken und hybride Bedrohungen richten; zudem solle die EU die territoriale Integrität ihrer Mitglieder garantieren, sagt Breton. "Europäische Verteidigungspolitik wird aber nur glaubhaft sein, wenn wir auch in der Lage sind, außerhalb unserer Grenzen komplizierte militärische Operationen zu starten", argumentiert er. Dafür sei eine schnell zu mobilisierende, flexible EU-Eingreiftruppe notwendig, "mit allem, was das für Logistik, Vorbereitungen und Kommandostrukturen bedeutet - und mit Blick auf die Risiken für jene Frauen und Männer, die für Europa im Einsatz wären". Solch eine Truppe brauche wiederum ein gemeinsames militärisches Kommandozentrum, mit eigenem Budget und klaren Zielen.

Breton räumt ein, dass seine Vorschläge "ehrgeizig" seien. "Aber eine Sache ist klar: Abwarten macht nichts besser."

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