Süddeutsche Zeitung

Neues Klimaziel der EU:Scheitern oder historische Einigung?

Mindestens 55 Prozent weniger Treibhausgase bis 2030: Diese Zahl wird die EU dem US-Präsidenten Joe Biden bei seinem Klimagipfel präsentieren. Die Grünen im Europäischen Parlament sind enttäuscht und klagen über Tricksereien und PR-Maßnahmen.

Von Michael Bauchmüller, Berlin, und Matthias Kolb, Brüssel

Um 5.05 Uhr sind die Verhandlungen beendet. "Wir haben einen Deal", schreibt kurz danach auf Twitter Frans Timmermans. Der Erste Exekutivvizepräsident der EU-Kommission soll dafür sorgen, dass Europa im Jahr 2050 klimaneutral ist. Dann sollen nicht mehr Treibhausgase ausgestoßen als anderswo eingespart werden. 15 Stunden rangen die Unterhändler des Europaparlaments mit Timmermans und den Vertretern aus Portugal, das momentan die Mitgliedstaaten vertritt, bis alle Details geklärt waren.

Timmermans schwärmt von einem "starken Signal an die Welt". Ein solches wollte die EU kurz vor dem virtuellen Klimagipfel von US-Präsident Joe Biden aussenden. Die Sorge, dort keine Zahlen nennen zu können, hatte nach fünf ergebnislosen Brüsseler Verhandlungsrunden im "Trilog"-Format den Druck so erhöht, dass man sich einigen musste. Strittig war vor allem die Frage, wie viel Kohlendioxid (CO₂) bis 2030 eingespart werden soll. Hier lagen die Forderungen der Abgeordneten mit 60 Prozent und der Mitgliedstaaten mit 55 Prozent weit auseinander. Am Ende musste sich das Europäische Parlament mit wenigen Verbesserungen zufriedengeben. Nun gilt das Ziel, den CO₂-Ausstoß um mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 zu senken.

Auch weil der bisherige Zielwert der EU bei einem Minus von 40 Prozent lag, spricht der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese, der für die Europäische Volkspartei (EVP) die Verhandlungen leitete, zufrieden von einer "historischen" Einigung. Er begrüßt, dass das Ziel der Klimaneutralität erstmals gesetzlich festgeschrieben werde, und nennt es "entgegen anderen Behauptungen sehr ambitioniert". Für die Christdemokraten strebte er erfüllbare Reduzierungen an: "Von Zielen, die nur auf dem Papier stehen, haben zukünftige Generationen nichts."

Wie werden "Senken" eingerechnet?

Ganz anders urteilt Michael Bloss, der die Grünen-Fraktion in den Gesprächen vertrat und von einem "Scheitern" spricht. "Das Pariser Klimaabkommen wird so kaum einzuhalten sein, der Klimawandel wird uns das nicht verzeihen", sagt er. Mit dem Pariser Abkommen soll die Erderwärmung auf unter 1,5 Grad Celsius beschränkt werden. Durch die "Blockade der Bundesregierung und der Mehrheit der EU-Regierungen" werde der Klimaschutz unterlaufen und die EU "zu einem schwachen globalen Partner", kritisiert Bloss. Die Vorreiterrolle der EU im Klimaschutz sei nun verloren.

Er attackiert auch Ursula von der Leyen und ihr Vorzeigeprojekt des Europäischen Green Deal: Dieser entpuppe sich "als PR-Projekt mit blumigen Worten und wenig konkreten Maßnahmen". Die Kommissionschefin nannte die Einigung "ein bindendes Versprechen an unsere Kinder und Enkel", mit dem Klimagesetz begebe sich die EU "auf einen grünen Pfad".

Die Grünen sowie Umweltschützer klagen über "Rechentricks", durch die die tatsächlichen Einsparungen nur 52,8 Prozent betragen würden. Der Streit dreht sich darum, wie jene Mengen Kohlendioxid eingerechnet werden, die in Wäldern, Pflanzen und Böden gespeichert werden. Laut Bloss führt die Einbeziehung dieser sogenannten Senken zu einem niedrigeren Einsparziel.

Liese begrüßt hingegen, dass nun die Senken anders als bisher berücksichtigt werden: "Die Leistung von Waldbauern und Landwirten, die etwas für das Klima tun, müssen in Zukunft stärker honoriert werden." Die Wälder befänden sich in einem kritischen Zustand, weshalb es Anreize brauche, damit sich eine nachhaltige Forstwirtschaft künftig noch lohne, hatte der EVP-Mann vor der Sitzung argumentiert. Bloss hält es für unrealistisch, die Senken, die schädliches CO₂ speichern, vergrößern zu können, da in fast allen Ländern Europas die Klimakrise mit ihren Dürren dafür sorge, dass Wälder absterben. Kein EU-Land hat laut Bloss eine Aufforstung angekündigt, ohnehin hätten nur Schweden und Finnland entsprechende Möglichkeiten. Dem Parlament gelang es nur, die Anrechnung der Senken auf 225 Millionen Tonnen CO₂ zu begrenzen.

Die politischen Reaktionen auf die Einigung zeigen, dass auch in Brüssel der Bundestagswahlkampf begonnen hat. Die SPD-Europaabgeordnete Delara Burkhardt wirft der CDU vor, "die Bundesregierung daran gehindert" zu haben, sich für ein höheres Klimaziel einzusetzen. Bloss beklagte wütend die "Blockade der Bundesregierung". Der grünen Zahl von nur 52,8 Prozent Einsparung hält Pascal Canfin, der Chef des Umweltausschusses, den Wert von "fast 57 Prozent" entgegen. Dieser könne erreicht werden, weil die EU-Kommission dafür sorgen wolle, dass durch Aufforstung die Bindekraft der Wälder auf 300 Millionen Tonnen Kohlendioxid erhöht wird.

Vorschläge der EU-Kommission folgen im Juni

Dass die Mitgliedstaaten einer weiteren Verschärfung des Klimaziels zustimmen würden, erwies sich wie erwartet als unrealistisch. Erst im Dezember hatten die 27 Staats- und Regierungschefs eine Nacht durchverhandelt, um vor allem Polen dazu zu bringen, die 55-Prozent-Marke zu akzeptieren. Der Rat lehnt auch eine Verpflichtung ab, wonach 2050 alle Mitgliedsländer klimaneutral sein müssten. Durchsetzen konnte das Europaparlament die Gründung eines Klimarats mit 15 Experten, der die Umsetzung der Ziele begleiten soll. Kein Land darf mehr als zwei Wissenschaftler entsenden. Zudem wird ein Treibhausgas-Budget für die kommenden Jahrzehnte ermittelt, aus dem sich ein Etappenziel für 2040 ableiten lässt.

Der nach 15 Stunden Verhandlungen erzielten Einigung müssen noch das Plenum des Europaparlaments sowie die Mitgliedstaaten zustimmen. Sie war nicht nur wichtig, damit die EU-Vertreter gegenüber den anderen Staaten verbindliche Ziele nennen können, sondern beeinflusst auch die weiteren Planungen. Um das Ziel, 2050 klimaneutral zu sein, erreichen zu können, braucht es in den kommenden Jahrzehnten einen umfassenden Umbau der Wirtschaft hin zu erneuerbaren Energien und Produktionsmethoden ohne Abgase. Wie das konkret gehen soll, will die EU-Kommission in einem Gesetzespaket "Fit for 55" erklären, das im Juni kommen soll.

EU-Emissionshandel muss verschärft werden

Mit dem neuen Klimaziel allerdings stehen der EU in diesem Sommer noch schwierige Entscheidungen bevor. So muss ihr zentrales Klimaschutz-Instrument, der Emissionshandel, verschärft werden. Keine triviale Aufgabe, denn damit steigen zwangsläufig auch die Kosten für die Industrie. Kraftwerke etwa müssen dann für jede Tonne CO₂ deutlich mehr ausgeben als bisher.

Wie das gehen könnte, hatte das Öko-Institut erst am Dienstag vorgerechnet. Im Auftrag der Umweltstiftung WWF überschlug es, wie stark die Zertifikate verknappt werden müssen, um höhere Klimaziele zu erreichen. Deren Zuteilung, so das Ergebnis, müsse je nach Szenario von Jahr zu Jahr ungefähr doppelt so stark sinken wie bisher. Zusätzlich müsse aber auch mit einem einmaligen Schnitt die Ausgangsmenge verringert werden, und das alles nach Möglichkeit schon 2023. "Je früher man das macht, desto weniger Schocks gibt es im System", sagt Juliette de Grandpré, Klimaexpertin des WWF. Und umgekehrt: Je später sich die EU für Anpassungen entscheidet, desto schmerzhafter könnten sie werden.

So oder so dürfte die Verschärfung den Kohleausstieg in Europa - und auch in Deutschland - beschleunigen. Schon jetzt liegt der Preis für die Emission einer Tonne CO₂ in der Industrie bei mehr als 43 Euro. Und damit doppelt so hoch wie noch vor einem Jahr.

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