Ursula von der Leyen schickte am Dienstagabend Glückwünsche an den neuen Bundeskanzler Friedrich Merz, einen „ausgewiesenen Freund und Kenner Europas“, wie sie auf der Plattform X schrieb. In den Stunden zuvor hatte die Kommissionspräsidentin erfahren, dass Merz offensichtlich kein ausgewiesener Freund und Kenner seiner eigenen Regierungskoalition ist, sonst wäre das Fiasko im ersten Wahlgang nicht passiert. In den höchsten Zirkeln der EU hielt man den Atem an. Es kursierte das Wort von der „Staatskrise“, die in Deutschland drohte, mit unabsehbaren Folgen für Europa.
Fasst man die Erwartungen an die Regierungskoalition des einstigen CDU-Europaparlamentariers Friedrich Merz zusammen, so soll sie Europa kraftvoll führen, statt sich, wie zuletzt die Ampel, bei Abstimmungen unter den 27 Regierungen hinter dem berüchtigten „German Vote“ – Enthaltung wegen Uneinigkeit – zu verstecken. Als Glücksfall für Europa könnte sich zudem erweisen, dass nun sowohl im Bundestag als auch im Europaparlament Christdemokraten und Sozialdemokraten paktieren. Die beiden politischen Lager haben die Einigung Europas vorangetrieben, in der aktuellen Krisenlage könnten sie die EU gegen Nationalisten und Rechtspopulisten gemeinsam verteidigen – und vielleicht sogar den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Armee in die Wege leiten. So weit die Theorie.
Im Europaparlament hakt es zwischen Schwarz und Rot
In der Praxis zeigt schon das Fiasko im ersten Durchgang der Kanzler-Wahl, wie brüchig das neue Bündnis in Berlin ist. Und im Europaparlament fliegen immer wieder die Fetzen bei der Umsetzung des gemeinsamen Programms.
Die unter dem Dach der Europäischen Volkspartei (EVP) versammelten Christdemokraten finden, die Sozialdemokraten hätten durch eine ideologische linksgrüne Politik vor allem in Klima- und Umweltfragen den Aufstieg der Rechten in Europa begünstigt. Und sie hätten bis heute nicht akzeptiert, dass die EVP mittlerweile die mit Abstand stärkste politische Kraft der EU ist, sowohl in den Mitgliedsländern als auch im Europaparlament.
Die Sozialdemokraten wiederum klagen, die EVP suche seit den Europawahlen 2024 im Parlament immer wieder bewusst die Unterstützung von Rechten und Rechtsextremen, um ihre Agenda des Rückbaus progressiver europäischer Politik durchzusetzen. Erst im April ging es hoch her im Streit um ein Gesetz, das die europäischen Unternehmen von ökologischen Berichtspflichten entlasten soll.
Die Frage ist nun, ob sich die Kampfzone in der politischen Mitte Europas durch die Regierung Merz befrieden lässt. Eindeutig ja, findet EVP-Chef Manfred Weber, wobei seine Begründung durchaus maliziös klingt: „Die neue Koalition in Berlin wird auch die Zusammenarbeit auf der EU-Ebene erleichtern, da die deutschen Sozialdemokraten nun anerkennen, dass wir bei der Wettbewerbsfähigkeit, im Kampf gegen illegale Migration und auch in der Sicherheitspolitik einen Politikwechsel hin zu einer bürgerlichen Politik brauchen.“
Wie hoch ist die Brandmauer in der EU-Politik?
Seine Gegenspielerin Iratxe García, Fraktionschefin der Sozialdemokraten, sieht das anders. Sie sei bei allen Themen gesprächsbereit, aber sie lasse sich nicht erpressen, sagt sie. Die Berliner Koalition könne die Arbeit auf EU-Ebene erleichtern, sofern sich Weber an die Brandmauer halte, die im Berliner Koalitionsvertrag niedergeschrieben ist. Die Spanierin weiß genau, was in dem Papier auf Seite 141 steht: Union und SPD schließen jede Zusammenarbeit mit „verfassungsfeindlichen, demokratiefeindlichen und rechtsextremen Parteien“ aus, und zwar ausdrücklich „auf allen politischen Ebenen“.
Garcías Fraktionskollege René Repasi, Sprachrohr der deutschen Sozialdemokraten im Europaparlament, droht sogar: Sollte die EVP rechte Mehrheiten einschließlich der AfD billigend in Kauf nehmen, müsse sich der Berliner Koalitionsausschuss damit befassen.
Es ist eine gewöhnungsbedürftige Vorstellung, Union und SPD in Berlin könnten über Abstimmungen im Europaparlament diskutieren und Manfred Weber maßregeln. Die Frage ist erstens, ob das in ihrer Kompetenz liegt, und zweitens, was genau „Zusammenarbeit“ mit der Rechten bedeutet. Es gibt im Europaparlament nicht nur eine, sondern drei Fraktionen rechts von der EVP. Ist es schon illegitim, wenn die EVP bei einer Abstimmung eine Mehrheit dank Giorgia Melonis Fratelli d’Italia erhält und zugleich auch die AfD an Bord ist?
Der neue Kanzler wird am Freitag in Brüssel erwartet
In der politischen Praxis werden Christdemokraten und Sozialdemokraten von Fall zu Fall um einen Kompromiss ringen müssen. An diesem Donnerstag zum Beispiel geht es bei der Plenarsitzung in Straßburg um den Wolf und das Auto, zwei Herzensthemen der Christdemokraten, vor allem der deutschen. Um die Landwirte zu besänftigen, dringt die EVP darauf, dass der Abschuss von Wölfen in Europa erleichtert wird. Und um der bedrängten deutschen Autoindustrie Strafzahlungen zu ersparen, sollen die Automobilkonzerne mehr Zeit bekommen, um ihre CO₂-Einsparziele der Jahre 2025 bis 2027 zu erfüllen.
Beiden Gesetzen werden die Sozialdemokraten wohl zustimmen. Doch es werden demnächst stürmischere Tage kommen, zum Beispiel, wenn CDU/CSU das für 2035 beschlossene Aus des Verbrennungsmotors rückabwickeln wollen.
Am Freitag wird Kanzler Merz in Brüssel zum Antrittsbesuch bei Kommissionspräsidentin von der Leyen (CDU) erwartet. Mit Manfred Weber (CSU), Chef der stärksten Parlamentsfraktion, ist er in stetigem Austausch. Das klingt nach geballter deutscher Macht in Europa. Aber seit der Wahl vom Dienstag weiß man: Auch nach dem Ende der Ampelregierung lauert in Deutschland das Chaos.