Die Beziehungen der Europäischen Union zu Israel verschlechtern sich wegen der Zuspitzung der Situation in Gaza rapide. Das setzt auch die Bundesregierung unter Zugzwang. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) sei in großer Sorge wegen der humanitären Lage in dem von Israel besetzten Küstenstreifen, sagte Regierungssprecher Stefan Kornelius am Mittwoch. Das habe Merz auch in der Kabinettssitzung „sehr deutlich“ gemacht. Deutschland gehört innerhalb der Europäischen Union zu den treuesten Unterstützern Israels, sieht sich aufgrund der wachsenden Kritik am Vorgehen Israels und am Leiden der Zivilbevölkerung zunehmend isoliert.
Zusätzliche massive Verstimmungen löste der Beschuss von Diplomaten, auch aus Deutschland, im Westjordanland aus. Die israelische Armee habe in der Nähe von Dschenin Schüsse in Richtung einer angemeldeten diplomatischen Delegation abgegeben, teilte das Auswärtige Amt mit. Betroffen gewesen sei auch ein deutscher Diplomat sowie ein Fahrer aus dem Vertretungsbüro Ramallah. „Diesen unprovozierten Beschuss verurteilt das Auswärtige Amt scharf. Wir können von Glück reden, dass nichts Schlimmeres passiert ist“, sagte eine Sprecherin.
Bei einem Treffen in Brüssel hatten am Dienstagabend 17 der 27 EU-Außenministerinnen und Außenminister dafür gestimmt, das Assoziierungsabkommen mit Israel von der EU-Kommission überprüfen zu lassen und notfalls zu kündigen. Deutschland lehnte dies ab. Die humanitäre Lage in Gaza werfe Fragen auf, sagte ein Sprecher von Außenminister Johann Wadephul (CDU). Man sei aber überzeugt, dass diese Fragen „im Dialog“ geklärt werden müssten. Es gelte, Gesprächskanäle offenzuhalten. Auch das Assoziierungsabkommen biete ein Forum, kritische Fragen anzusprechen. Dennoch wurde deutlich, dass in Berlin der Ärger über die israelische Regierung wächst.
Das Assoziierungsabkommen bildet seit dem Jahr 2000 die Grundlage für eine enge politische und wirtschaftliche Partnerschaft. Allerdings steht in Artikel 2 des Abkommens, Voraussetzung für den Vertrag sei die Respektierung der Menschenrechte. Und in der EU finden immer mehr Länder, mit seinem Vorgehen im Gazastreifen verstoße die Regierung Netanjahu gegen diese Bedingungen.
Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas, die die Sitzung in Brüssel leitete, nannte die Lage für die Menschen im Gazastreifen „katastrophal“. Es sei zu begrüßen, dass Israel nach zweimonatiger Pause wieder die Lieferung von Hilfsgütern zugelassen habe, aber das sei bislang nur ein Tropfen auf den heißen Stein. „Die Mitgliedsländer halten die Lage für untragbar“, sagte Kallas.
Kritik an Netanjahu: „Ethnische Säuberung“ im Gazastreifen
Ihr Vorgänger Josep Borrell aus Spanien galt als harter Kritiker von Israel. Er wirft Regierungschef Benjamin Netanjahu bis heute „ethnische Säuberung“ im Gazastreifen vor. Die Estin Kallas schlägt einen gemäßigteren Ton gegenüber der israelischen Regierung an, aber Einfluss auf Netanjahu hat die EU weiterhin nicht. Eine Zwei-Staaten-Lösung für Nahost, die die Europäische Union propagiert, lehnt Israel ab.
Großes Drohpotenzial hat auch der Beschluss vom Dienstagabend nicht, denn es gibt kein anderes außenpolitisches Thema, bei dem die EU so gespalten ist wie beim Umgang mit dem Nahostkonflikt. Sollte die Kommission zu dem Schluss kommen, das Abkommen sollte ausgesetzt werden, müssten alle 27 Regierungen dafür stimmen. Deutschland gehört mit Ungarn, Österreich und Tschechien zu den Ländern, die zu so einem Schritt nicht bereit sein dürften. Ungarn verhinderte am Dienstag auch weitere EU-Sanktionen gegen extremistische Siedler im Westjordanland.
Es war überraschenderweise der niederländische Außenminister Caspar Veldkamp, der den Antrag eingebracht hatte, das Assoziierungsabkommen zu überprüfen. Die Niederlande zählten bislang zu den verlässlichen Unterstützern von Israel. Auch die neue belgische Regierung hat in den vergangenen Tagen eine Kehrtwende vollzogen. Die Mitte-rechts-Regierung von Ministerpräsident Bart De Wever, Israel zunächst freundlicher gesinnt, vertritt nun genau die gleiche Position wie die linke Vorgängerregierung. Zwei der fünf Parteivorsitzenden in der Koalition werfen Israel einen „Genozid“ vor.
Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hatte am Dienstag Beistand außerhalb der EU gesucht: Gemeinsam mit dem britischen Premierminister Keir Starmer und dem kanadischen Regierungschef Mark Carney nannte er das Vorgehen Israels im Gazastreifen „völlig unverhältnismäßig“ und drohte mit Sanktionen. Benjamin Netanjahu wehrte sich auf der Plattform X umgehend. Macron, Starmer und Carney würden das Morden der Terrorgruppe Hamas noch belohnen, schrieb er. „Dies ist ein Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei. Israel wird sich mit gerechten Mitteln verteidigen, bis der totale Sieg erreicht ist.“
Hilfslieferungen sind nur ein Tropfen auf dem heißen Stein
Dennoch verschärfte die britische Regierung ihre Gangart gegenüber Israel. Sie stoppte die Verhandlungen über ein neues Handelsabkommen und bereitet offenbar Sanktionen gegen Regierungsmitglieder vor. Einem Bericht der Times zufolge handelt es sich um Finanzminister Bezalel Smotrich, Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Verteidigungsminister Israel Katz. „Wir können nicht dulden, dass die Menschen in Gaza verhungern“, sagte Premierminister Starmer. Sein Außenminister David Lammy beschuldigte Netanjahu des „Extremismus“.
Hilfsorganisationen kritisieren die Wiederaufnahme der Hilfslieferungen in den Gazastreifen als unzureichend. Das Ende der Blockade sei nicht mehr als ein Vorwand, um dem Vorwurf des Aushungerns der dortigen Bevölkerung zuvorzukommen, sagte der Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen, Christian Katzer, am Mittwoch laut der Agentur KNA im ARD-Morgenmagazin. Es würden viel zu wenig Lebensmittel nach Gaza hineingelassen – und selbst diese kämen nicht bei den Menschen an.