Flüchtlingspolitik der Europäischen Union:Trotz Betroffenheit vor allem Abschreckung

An dieser Stelle wurden die Leichen von Flüchtlingen angeschwemmt, deren Schiff vor der Küste Italiens gesunken war.

An dieser Stelle wurden die Leichen geflüchteter Menschen angeschwemmt, deren Schiff vor der Küste Italiens gesunken war.

(Foto: Tiziana Fabi/AFP)

Auch nach der Katastrophe in Kalabrien legt es die EU mehr denn je darauf an, Migration zu verhindern. Das zeigt nun das Treffen der Innenminister.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Das Bild des zweijährigen syrischen Jungen Alan Kurdi, ertrunken im Mittelmeer und angeschwemmt an der türkischen Küste, machte September 2015 in ganz Europa die Runde. Siebeneinhalb Jahre später kursieren nun die Bilder von den Särgen, die in der kalabrischen Provinzhauptstadt Crotone aufgereiht sind, braune Särge für die Erwachsenen und weiße Särge für die Kinder, bei den Kindersärgen liegt Spielzeug.

Mehr als 70 Menschen sind vor der kalabrischen Küste ertrunken. Damals wie heute diskutierte man, wie Europa das Sterben von Migranten im Mittelmeer verhindern kann. Der Unterschied: Der öffentliche Aufschrei ist verhaltener, Europa hat andere Prioritäten.

Acht von zehn in Deutschland Aufgenommenen stammen aus der Ukraine

Das Treffen der für Migrationsfragen zuständigen Ministerinnen und Minister an diesem Donnerstag vermittelte einen Eindruck davon, was die Politik in der Europäischen Union bewegt. Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser gab vor der Sitzung eine kurze Stellungnahme ab und sprach zunächst über: die Ukraine.

Vor einem Jahr hat die Europäische Union die sogenannte Massenzustromrichtlinie für die Ukraine in Kraft gesetzt, was bedeutet: Flüchtlinge aus der Ukraine genießen befristeten Schutz in der EU, ohne einen Asylantrag stellen zu müssen. Ein großer Erfolg sei dieses unkomplizierte Verfahren, sagte Faeser. Acht von zehn Geflüchteten, die in Deutschland derzeit Aufnahme finden, stammten aus der Ukraine, insgesamt sind es eine Million.

Flüchtlingspolitik der Europäischen Union: Kindersärge mit Opfern der Schiffskatastrophe vor der Küste Italiens stehen in einer Sporthalle in Crotone.

Kindersärge mit Opfern der Schiffskatastrophe vor der Küste Italiens stehen in einer Sporthalle in Crotone.

(Foto: Remo Casilli/Reuters)

Danach kam die Ministerin auf die "allgemeine Migrationslage" zu sprechen - die Flüchtlingszahlen in der EU sind so hoch wie seit 2015 und 2016 nicht mehr. Faeser zeigte sich "tief betroffen" von dem Unglück vor Italiens Küste und versprach, Deutschland werde im Rahmen des freiwilligen europäischen Solidaritätsmechanismus Flüchtlinge aufnehmen, die derzeit in italienischer Obhut sind. Ansonsten plädierte sie dafür, jetzt endlich ein dauerhaftes europäisches Asylsystem zu schaffen, das nicht nur immer höhere Mauern um Europa errichtet, sondern auch "legale Fluchtwege nach Europa" schaffe, "damit niemand mehr im Meer ertrinken kann".

Das Boot, das vor Kalabrien sank, kam nach europäischer Definition auf einem "illegalen" Weg nach Europa, von Schleusern in der Türkei losgeschickt. Die Menschen an Bord - viele von ihnen stammen aus Afghanistan - hatten viel Geld für die Reise bezahlt. Davon, wie man solche Menschen aus dem Mittelmeer retten kann, spricht in der EU kaum noch jemand. Auch Nancy Faeser tritt in Brüssel deutlich vorsichtiger auf als kurz nach ihrem Amtsantritt.

Die Vorstellung der Ampel von Seenotrettung lässt sich nicht durchsetzen

Eine "staatlich koordinierte und europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer", wie sie im Koalitionsvertrag der deutschen Ampel als Ziel ausgegeben wird, lässt sich in der EU nicht durchsetzen. Außer Deutschland hat höchstens Luxemburg Interesse daran. Private Rettungsschiffe werden von der Regierungskoalition mit zwei Millionen Euro jährlich unterstützt. Andererseits arbeitet das Verkehrsministerium unter Volker Wissing gerade daran, die Sicherheitsauflagen für Rettungsschiffe zu erhöhen, was mit großen Kosten verbunden ist. Will er die Arbeit der NGOs dadurch erschweren? Wissing lässt das energisch dementieren, doch was in Brüssel ankommt, ist die Botschaft: Auch die deutsche Regierung ist zwiegespalten, was die Seenotrettung betrifft.

Italien hat die Arbeit privater Rettungsschiffe zuletzt erschwert und fordert generell neue Regeln für deren Aktivitäten. Deutschland müsse künftig Flüchtlinge von Schiffen aufnehmen, die unter deutscher Flagge Menschen retten. Trotz gegenteiliger wissenschaftlicher Erkenntnisse gehen die meisten Regierungen davon aus, dass sich die Schleuser die Arbeit von Seenotrettern zunutze machen und noch mehr unsichere Boote aufs Meer schicken - im Wissen, die Menschen würden aus dem Meer gefischt.

Am Donnerstag kündigte Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni an, dass Schleusern und Hintermännern künftig Gefängnisstrafen von bis zu 30 Jahren drohen, wenn es bei irregulären Überfahrten zu Unfällen mit Toten kommt. "Ich will diese Leute bekämpfen und besiegen", sagte sie über jene "Händler des Todes".

Mehr denn je ist die Flüchtlingspolitik der EU darauf ausgelegt, Migration zu verhindern. Die Kommission soll demnächst einen Vorschlag vorlegen, wie sie "physische Grenzinfrastruktur", also Zäune, zu finanzieren gedenkt. Sie will weitere Abkommen mit Herkunfts- und Transitstaaten in Afrika schließen, um Schleusern das Handwerk zu legen. Die schwedische Regierung, die derzeit die Ratspräsidentschaft innehat, setzt alles daran, dass die EU künftig härter gegen Staaten vorgeht, die Flüchtlinge nicht zurücknehmen. Sie sollen mit dem Entzug von Visaerleichterungen bestraft werden. Auch das soll Migranten abschrecken. Das Thema stand auf der Tagesordnung der Sitzung am Donnerstag.

Nicht auf der Agenda stand dagegen am Donnerstag die Frage, wie Flüchtlinge, die das Anrecht auf Schutz in Europa genießen, gerecht unter den 27 Staaten verteilt werden können. Sie werde das Thema dennoch ansprechen, kündigte Nancy Faeser vor der Sitzung an. Mehrere Gesetze, die eine gemeinsame europäische Asylpolitik definieren, werden zwischen den Institutionen der EU gerade verhandelt. Sie sollen dieses Jahr verabschiedet werden. Aber eine Einigung wird es nicht geben, solange es keine Lösung für eine dauerhafte solidarische Verteilung der Migranten gibt.

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